“Das wird doch nix!” Mein Traum vom ersten Berg

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Mein Rennrad, mein erster Berg und ich. Ein Bericht von meiner ersten Tour in den Alpen.

Ein Blick auf meinen Radcomputer, ein Blick nach vorn. Rechts, links, rechts, links, rechts, links – möglichst gleichmäßiger Tritt. Und dann dieses einzigartige Gefühl, das ich in dieser Ausprägung noch nie gespürt habe: Gewissheit darüber, dass ich eine Herausforderung meistere, die so groß war, dass ich sie vorher kaum realistisch einschätzen konnte. In diesem Augenblick war noch etwas mehr als ein Kilometer bis zur “Bergwertung” zu fahren und die Steigung variierte nochmal zwischen sieben und kurzzeitig bis zu 13 Prozent.

Doch von jetzt an fuhr sich dieser Anstieg wie von selbst. Ich hatte ein Grinsen im Gesicht. Der Schmerz rückte in den Hintergrund, die Vorfreude auf das Panorama, das mich gleich erwarten würde, stieg. Gerade fuhr ich noch Zick-Zack, um die Steigung etwas aus dem Berg zu nehmen und jetzt flog ich nur noch so hoch – mit bestimmt sagenhaften 10 Km/h. Dann kam die Belohnung. Erstmals in meinem Leben auf dieser Höhe, erstmals ein solcher Ausblick. Unbeschreiblich. All die Qualen, all die Schmerzen, die ich zwischenzeitlich hatte, all die Momente, in denen ich mich hinterfragt habe und all die Planung im Vorfeld: Es hat sich gelohnt.

Ausblick von der Panoramastraße auf 1540 Metern Höhe.

Noch lange danach bin ich damit beschäftigt, all diese Eindrücke zu verarbeiten. So sehr, dass ich es aufschreiben möchte. Vor allem für mich selbst, aber gern auch für alle, die es interessiert. Denn der Weg bis zu diesem Moment, an dem ich realisierte, dass ich stark genug bin und in dem der Stolz auf mich und meine Leistung einsetzte, war steil. Bis zu 24 Prozent steil auf dem physischen Weg nach oben – aber bis zu 100 Prozent auf mentaler Ebene.

Wie alles begann: Das Hobby der Qual

Der Traum davon, einen Berg dieser Kategorie zu erklimmen, lebt schon lange in mir. Als kleines Kind habe ich Jan Ullrich und andere Radprofis bewundert. Ich fuhr selbst mit meinem Fahrrad durch Brandenburg und spielte gedanklich die Tour de France und andere Radrennen nach. Ein Rennrad aber habe ich nie besessen. Zunächst wohl, weil ich das Interesse nach den Dopingskandalen nahezu komplett verlor. Zwar kehrte es in den 2010er Jahren nach und nach zurück, doch mit Fußball und Laufen als Sportarten schloss ich meinen Frieden.

Als ich mit dem Fußball aufhörte, war ich 24. Es dauerte noch fünf weitere Jahre, bis ich endlich zum Rennrad fand. Im August 2022 kaufte ich mein Cube Attain SL. Ein sehr schönes Rad für den Einstieg, das sowohl im Flachland hier in Brandenburg, als auch in den Bergen sehr angenehm zu fahren ist. Schon nach wenigen Ausfahrten war ich komplett verliebt in den Sport. Bikefitting, Klamotten, Ausrüstung, ein smarter Trainer für die kalten Wintertage – ich erspare euch die Details darüber, wie viel Geld ich seitdem ausgegeben habe. Anfangs dachte ich noch, Radfahren wäre eine gute Ergänzung zum Laufen. Mittlerweile sind Laufen, Yoga und Kraftsport die Ergänzung zum Radfahren. Die Sucht hat mich gepackt.

Über Zwift bin ich in einer internationalen Community mit veganen Sportler*innen gelandet, die meinen Radsportalltag heute prägt. Sei es bei virtuellen Ausfahrten, beim Teilen von Erfahrungen, bei Hilfestellungen, gegenseitigem Support oder der bloßen Unterhaltung über alltägliche Themen. Dort begann mein Weg zum strukturierten Training und dort fand ich auch die Motivation, ernsthafte Fortschritte zu machen. Alpe du Zwift (eine virtuelle Nachbildung des legendären Anstiegs Alpe d’Huez) unter einer Stunde packen, Teamzeitfahren jeden Donnerstag, ständige Verbesserungen des FTP-Werts (also der Power, die man ungefähr 40-60 Minuten treten kann) – höher, schneller, weiter. Nochmal: Es hat mich gepackt.

Vorbereitung: Erste Hürden vor dem Urlaub

Und dann war da dieser anstehende Urlaub in Berchtesgaden im Mai. Mit meiner Freundin, ihrer Mutter und einer Freundin der Mutter. Ursprünglich war gar nicht geplant, dass ich mein Fahrrad mitnehme. Doch je mehr ich im Winter meine Fortschritte bemerkte und je häufiger ich Alpe du Zwift erklomm, desto mehr wuchs die Lust daran, dort einen echten Berg in Angriff zu nehmen. Also musste ich eine erste Hürde nehmen: Wie transportiere ich mein Glurad (ja, so heißt mein Rennrad) am besten? Wir fahren einen kleinen Hyundai i20. Ich dachte erst, das wird nichts. Schließlich fahre ich eine 62er Rahmengröße. Vorderrad raus, Sitze etwas verstellen – nach mehrminütiger Detailarbeit passte es tatsächlich. Der Traum lebte!

Als nächstes plante ich mehrere Touren. Vollkommen unsicher, welche meinem Niveau entspricht. Zum Zeitpunkt der Planung war ich auch noch viel leistungsschwächer als ich es jetzt bin. Eine Tour nach Salzburg sollte es erst werden. Der Gaisberg sah dort interessant aus. Zunächst viele Kilometer flach, dann hoch. Parallel plante ich aber auch Touren südlich von Berchtesgaden. Das Rossfeldpanorama hatte es mir auf Bildern angetan. Die Zahlen aber waren beängstigend.

Screenshot von Komoot mit dem Höhenprofil der Route. Etwas mehr als 100 Kilometer, insgesamt über 2.000 Höhenmeter.

1.540 Meter Höhe, lange Anstiege nach oben, viele Passagen mit zweistelligen Prozenten – Selbstzweifel packten mich. Ich ließ die Routen erstmal Routen sein und fokussierte mich auf die wöchentlichen Teamzeitfahren und andere Zwift-Rennen. Bis der Urlaub dann doch wieder näher rückte. Im April setzte ich mich wieder an die Planung in Komoot.

Vorbereitung: Selbstüberschätzung oder gute Herausforderung?

Auf dem Discord-Server von “Team Vegan” teilte ich meine Gedanken dazu. Zunächst postete ich die Salzburg-Route. Jemand, mit dem ich zusammen auf Zwift Rennen fahre, meinte nur: “Das wird einfach für dich. Ich denke, eine Herausforderung wären 1.300 Höhenmeter oder mehr.” Das hat mich getriggert. Also präsentierte ich ihm die Route, die ich schon vor Monaten mal geplant, aber direkt gedanklich verworfen hatte. Seine Antwort: “Besser!”

Also gut. Dann dieses Monster. 100 Kilometer, über 2.000 Höhenmeter. Der Anstieg hoch zum Rossfeldpanorama machte mir nach all dem positiven Zuspruch gar nicht mehr so viel Angst, da er sehr gleichmäßig erschien. Aber da war noch diese Rampe, die ich auf dem Weg dorthin eingeplant hatte. Über die Holzlobstraße hoch zum eigentlichen Hauptanstieg. Rund vier Kilometer fast durchgängig im zweistelligen Prozentebereich – bis zu über 20 Prozent.

Zur Erinnerung: Ich bin vorher nie einen Berg hochgefahren. Außer auf Zwift. Bis dahin war mein steilster Anstieg eine Brücke, die kurzzeitig sechs Prozent Steigung vorzuweisen hatte. Mein Ziel war es, keinen Meter zu schieben. Ich wollte aber auch meine Grenzen testen. Also plante ich nicht mehr um und reiste ins Ungewisse: Selbstüberschätzung oder genau die richtige Herausforderung?

Vorbereitung: Routenplanung, Ernährung, Wetter

Doch nur mit der Route war es in der Planung nicht getan. Ernährung, Toiletten, Stationen zum Nachfüllen der Flaschen – wie gehe ich das an? Bei Komoot kann man Toiletten und Trinkwasserstellen zum Glück einsehen. Einen Trinkwasserhahn gab es direkt vor der ersten Rampe und einen Trinkwasserbrunnen nach der langen Abfahrt vom Rossfeldpanorama. Ich kaufte mir zudem zwei Flaschen mit fast einem Liter Kapazität. Das musste reichen und Spoiler: Es hat gereicht.

Wichtig waren mir zudem Exitstrategien. Es war teils geplant, teils aber auch Zufall, dass die Route im bergigen Teil wie eine Acht aussieht. Das gab mir theoretisch die Möglichkeit, das Rossfeldpanorama auszulassen, falls ich nach der Rampe keine Kraft mehr gehabt hätte. Auch an anderen Stellen gab es Möglichkeiten, die Tour abzubrechen. Schließlich musste ich noch bis zum Tag vor meiner Fahrt mit schlechtem Wetter rechnen. Der Wetterbericht hob mein Stresslevel enorm an, doch dazu gleich mehr.

Was die Ernährung anging, war ich mir auch lange unsicher. Ich hatte mich viel belesen, Freunde und Bekannte gefragt. Maltodextrin und Salz wurden mir empfohlen. In Zukunft werde ich Maltodextrin mit Sicherheit noch testen, doch ich entschied mich für ein Dextropulver mit etwas Salz, weil ich das zuvor gut vertragen hatte und ich nicht mehr viel Zeit für Tests im Vorlauf hatte. Außerdem kaufte ich massig Riegel und Gels, von denen ich wusste, dass ich sie gut vertrage. Der Hungerast war meine zweitgrößte Angst.

Mein Radcomputer erinnerte mich regelmäßig und freundlich ans Essen.

Ich plante mit einem Riegel oder Gel pro halbe Stunde, richtete mir auf meinem Wahoo-Computer sogar eine Erinnerung ein. Damit ich mit den Verpackungen unterwegs kein Problem habe, habe ich die Riegel noch im Hotel ausgepackt und in einen Plastikbeutel von Ikea getan. Dieser kam dann geöffnet in meine Oberrohrtasche. So konnte ich direkt aus der Tasche snacken ohne mich auf Verpackungszeug zu konzentrieren. Ich fühlte mich sehr schlau. Außerdem bereitete ich noch eine Pulvermischung vor, die ich beim Nachfüllen der Flaschen nutzen kann.

“Das wird doch nix!”

Meine größte Angst war aber das Wetter. Eine Woche vor dem Urlaub: Regen, Gewitter und das jeden Tag. Halbe Woche vorher: Regen, Gewitter, fast jeden Tag. Vielleicht Glück am zweiten Tag des Urlaubs. Der Anreisetag sollte super werden, aber da war die Tour nicht drin. Also plante ich sie für den zweiten Urlaubstag ein. Zwei Tage vorher: Sonne am Vormittag, eventuell Gewitter nachmittags.

Ich hatte echt Schiss, dass mich ein Gewitter am Berg trifft. Bei Komoot schaute ich nochmal nach Restaurants und anderen Orten, zu denen ich im Notfall fahren kann. Aber auch Regen bereitete mir schon Sorgen. Meine ersten Abfahrten und dann auf nassem Boden? Uff.

Ein Tag vorher: Sonne, nachmittags vielleicht Regen, Gewitter immerhin unwahrscheinlich. Damit konnte ich leben. Ich stellte mich darauf ein, um sieben Uhr in der Früh loszufahren. Komoot sagte, ich werde ca. fünf bis sechs Stunden brauchen – ohne Pausen. Das Wetter zwang mich auch im Vorfeld nochmal dazu, Klamotten zu shoppen. Windweste, Armlinge, Beinlinge, sogar Überschuhe und einen windsicheren Baselayer hatte ich für den Notfall noch gekauft.

Ich vor meinem Fahrrad. Ich ziehe mir gerade meine Fahrradschuhe an.
Kurz vor der Abfahrt.

Doch das Wetter enttäuschte mich nicht. Ich startete in kurz/kurz, aber mit Beinlingen und Armlingen. Weste und Regenjacke hatte ich auch an, weil morgens noch um die zehn Grad waren. Die ersten zehn Kilometer rollte es gut, weil es größtenteils leicht bergab ging. Dann begannen die ersten kleineren Anstiege. In einem Waldstück ging es einmal bis zu zwölf Prozent bergauf. Ganz ehrlich? An der Stelle dachte ich nur: “Das wird doch nix!”

Bis zu 400 Watt habe ich da in die Pedale gehauen – ich wäre auch mit weniger hochgekommen, aber die Erfahrung machte ich erst später. Mein FTP liegt bei ca. 320, also ungefähr 3,8 w/kg. Für die, die damit nichts anfangen können: Für einen Hobbyfahrer ist das, meine ich, ganz gut. Schätzungsweise etwas überdurchschnittlich. Wichtig ist in dem Fall aber nur die Relation: 400 Watt sind deutlich über meiner Schwelle. Über ein paar Minuten kann ich das an einem guten Tag schon mal treten, aber länger nicht.

Selbstzweifel, Rechenspielchen und die Rampe

Die restlichen gut 15 Kilometer bis zum Königssee, der Wasserstation und der dann folgenden Rampe waren also geprägt von Selbstzweifeln: Muss ich echt so viel treten, um da hochzukommen? Oder kann ich irgendwie doch mit meiner Schwellenleistung arbeiten? Mehr als eine halbe Stunde pendelte ich zwischen Navigation (hier und da bin ich mal falsch abgebogen und musste dann direkt wieder zurück) und Rechenspielchen. Irgendwie fühlte es sich an, als würde ich jetzt zu einer großen Niederlage fahren. Und doch wollte ich natürlich nicht einfach aufgeben, ohne es zu probieren.

Ich kam am Königssee an, füllte meine Flaschen auf, bat eine Frau am Schalter der Bergbahn, kurz auf mein Rad aufzupassen und ging auf die Toilette. Dann war der Moment der Wahrheit gekommen. Nochmal kurz bergauf, dann eine Abfahrt und eine scharfe Kurve zur Holzlobstraße, die mit “steil” nicht annähernd beschrieben ist. Vielmehr ist es, als würde man auf eine Wand zufahren. Bilder geben das gar nicht richtig wieder.

Vermutlich bin ich auch deshalb instinktiv erstmal dran vorbeigefahren. Mein Gehirn weigerte sich, meinen Körper da hochzujagen. Blöd nur, dass ich dadurch Tempo von der Abfahrt verlor und so quasi aus dem Stand das Ding bewältigen musste. Na gut. Dann eben so. Die erste Minute fühlte sich noch gut an, dann tat es richtig weh. Puls im 170er Bereich, meine Kadenz sank trotz 34-34-Übersetzung auf bis zu 60 Umdrehungen pro Minute (mit 90 fühle ich mich am wohlsten), meine Atmung wurde richtig schwer. Ich wusste jetzt schon, dass ich die vier Kilometer nicht in einem Rutsch schaffen werde. Doch ich quälte mich, ging tief in den roten Bereich (also weit über die Schwelle hinaus) mit Spitzen bis zu 450 Watt, im Schnitt mit 342 Watt. Rechts, links, rechts, links, rechts, links. Dann war der steilste Teil geschafft. Die Holzlobstraße war gemeistert, ich war erstmal platt. Problem nur: Das war erst ein Kilometer. Ich hielt an der Kreuzung und pausierte kurz. Der Blick nach hinten frustrierte mich etwas. Wenig Strecke, hoher Kraftaufwand. Krass.

Nach wenigen Minuten ging es weiter. Jetzt in einem gleichmäßigeren Anstieg, aber immer noch mit sehr steilen Rampen. Ich musste viel Zick-Zack fahren, konzentrierte mich auf den gleichmäßigen Tritt und sprach mir selbst positiv zu – gut, manchmal rutschte mir auch ein klassisches “Quäl dich, du Sau” durch, aber wir bleiben alles in allem beim Framing “positiv”. Das funktionierte erstaunlich gut. Einen kleinen Zwischenstopp machte ich trotzdem noch, um ein Foto zu machen. Der Ausblick war einfach zu schön.

Ausblick nach dem ersten Teil der Rampe.

Dann ging es hoch zu einem Parkplatz. Zeit für eine erste Entscheidung: Weiter zum Rossfeldpanorama oder Exitstrategie? Die Entscheidung fiel mir leicht. Das härteste Stück war weg und ich fühlte mich noch erstaunlich gut. Auch mein Knie, das sich bei Überbelastung gern mal meldet, gab mir widerwillig ein positives Signal. Also rauf zum Rossfeld. Aber erst kam eine kurze Abfahrt. Davor hatte ich ebenfalls viel Respekt. Ab 60 Km/h habe ich reflexartig gebremst. Lieber vorsichtig als zu übertreiben. Spaß hatte ich dennoch. Glücklicherweise blieb es trocken. Das Wetter blieb durchgehend großartig.

Die Leiden werden zu Glücksgefühlen

Der Anstieg zum Rossfeld war deutlich angenehmer, zunächst meist mit einstelligen Prozenten. Erstmals konnte ich das Bergauffahren richtig genießen, weil es sich nicht wie reine Qual angefühlt hat. Ich hatte sogar die Kraft, mich mal etwas umzusehen und die Umgebung zu genießen. Das war auf der Rampe nur schwer möglich. Dann wurde es wieder steiler. In einer Serpentine legte ich noch eine kurze Pause ein, um Fotos zu machen. Ein Berliner hielt mit seinem Auto aus dem gleichen Grund und fragte, ob er mich mit meinem Rad fotografieren soll. Ich stimmte zu. Wir hatten einen kurzen Smalltalk unter Flachländern und dann gings auf die letzten Kilometer.

Foto von mir und meinem Fahrrad auf dem Weg zum Rossfeld.

Durch das Warten schloss eine andere Rennradfahrerin zu mir auf. Ich überlegte erst zu warten und gemeinsam zu fahren, das war mir dann aber doch zu aufdringlich und ich fühlte mich irgendwie auch motiviert, den Abstand nach oben zu retten. Schon irgendwie albern. Aber so ist Sport manchmal. Auch deshalb albern, weil ich an den steilen Stücken ordentlich Körner ließ und so an manchen Stellen wieder Zick-Zack fahren musste. Das ging der Fahrerin hinter mir aber auch so. Im Ziel waren wir beide sehr glücklich und machten Fotos von unseren Rädern und dem Ausblick.

Doch vor den Fotos kam dieser letzte Kilometer voller Glückseligkeit. Dieses breite Grinsen in meinem Gesicht. Alles ging wie von selbst. Das Ziel war in Sicht. Hätte ich nicht so viel Wasser verloren, hätte ich wohl vor Freude geweint, als ich oben ankam. Ich war überwältigt. Von mir, von der Aussicht, von allem. Gänsehaut. Aus sportlicher Perspektive war es ganz sicher der schönste Moment meines Lebens. Einer, den ich nie vergessen werde.

Der Blick von der Panoramastraße.

Ich verweilte bestimmt 15 Minuten dort oben. Genuss. Stolz. Richtig übers Geländer schauen wollte ich dennoch nicht. Ich habe paradoxerweise Höhenangst. Auch das war eine Unsicherheit in der Planung. Doch ich stellte fest, dass das in den Bergen geht, solange ich nicht irgendwo direkt nach unten schauen muss.

Als nächstes realisierte ich, dass es noch knapp 50 Kilometer bis ins Hotel sind. Riegel, Wasser, Abfahrt. Auch hier wieder mit aller Vorsicht, aber schon etwas mutiger. Unten angekommen, konnte ich die Flaschen nochmal an einem Brunnen nachfüllen. Die nächste Entscheidung stand an: Ich war jetzt quasi am Fuß des Rossfeldanstiegs, den ich zuvor mittendrin begann, weil ich von der Holzlobstraße aus seitlich reinfuhr. Das Stück, das dadurch fehlt, würde jetzt kommen. Hätte ich mich nicht gut gefühlt, hätte ich aber auch bergab nach Berchtesgaden zurückfahren können.

Die größte Qual waren nicht die Berge

Doch ich fühlte mich gut und komplettierte den Rossfeldanstieg. Dieser Teil war auch sehr moderat. Dann wieder bergab. Und ein Moment, auf den ich gern verzichtet hätte. Ich fuhr auf meiner Spur bei ca. 60 Km/h, als mir ein Autofahrer in seinem Sportwagen entgegenkam. Aus der Kurve heraus überholte er ein anderes Auto. Er konnte mich gar nicht sehen. Durch mein Adrenalin realisierte ich die Situation kaum. Ich würde schätzen, dass er ca. einen Meter neben mir vorbeifuhr. Hätte er mich getroffen, wäre ich wahrscheinlich tot. Wäre ich schneller gefahren und hätte nicht ab 60 Km/h gebremst, hätte er wohl nicht mehr rechtzeitig einscheren können. Unverantwortlich von ihm. Glück für mich.

Mental hat mich das komischerweise kaum belastet. Ich fuhr nach Berchtesgaden, genoss noch etwas die Innenstadt und fuhr dann wieder in Richtung Hotel. 20 Kilometer. Kaum noch richtig steil. Und doch die härtesten Kilometer dieser Tour. Denn so langsam machte sich die Anstrengung dann doch bemerkbar. Vermutlich auch, weil die Freude über das Geschaffte langsam wieder wich und der Schmerz zurückkam. Der Rückweg war eben weniger spektakulär.

Blick auf den Radcomputer. Noch 15 Kilometer. Waren es nicht vor einer Stunde noch 20? Rechts, links, rechts, links, rechts, links – schön gleichmäßig, 90er Kadenz, Zone 2 (also der Leistungsbereich, den ich übertrieben gesagt den ganzen Tag treten kann). Blick auf den Radcomputer. Noch 14,8 Kilometer. Ist doch nicht wahr.

Dann aber kam irgendwann die Straße, die zum Hotel führte. Die vor mehreren Stunden noch so gut rollte, weil es leicht bergab ging. Die fünf Prozent Steigung, die ich nun mitunter bewältigen musste, fühlten sich plötzlich an wie die Holzlobstraße. Dann kam das Ortseingangsschild: Weißbach. Noch wenige Meter zum Hotel. Nochmal links, rechts, links, rechts, dann kurz rollen lassen, ausklicken, Rad an die Bank der Bushaltestelle vor unserem Hotel lehnen und auf die Bank fallen lassen. Geschafft!

Kurz war ich einfach nur leer, dann kam nochmal ein ähnliches Gefühl wie oben auf 1540 Metern Höhe: Breites Grinsen, vielleicht auch eine Träne, falls da noch Wasser in mir war. Nicht mit Worten zu beschreiben. All die Qualen, all die Schmerzen, die ich zwischenzeitlich hatte, all die Momente, in denen ich mich hinterfragt habe und all die Planung im Vorfeld: Es hat sich gelohnt.

Schlusswort

Vielleicht wird es Leute geben, die beim Lesen dieses Textes den Kopf schütteln. Fühle ich. Ich schüttle auch beim Schreiben gerade mit dem Kopf. Habe ich das wirklich getan? Aber ich bereue gar nichts. Im Gegenteil. Und wenn ich die Tour mit der Erfahrung nochmal planen müsste, würde ich selbst die Holzlobstraße wieder mit einplanen. Es war an manchen Stellen eine Grenzerfahrung. Aber es war eines der schönsten Dinge, die ich in meinem bisherigen Leben gemacht habe.

Geärgert habe ich mich, dass ich vor Aufregung die Aufnahme meiner Garmin-Uhr zu spät gestartet habe, sodass ich diese nicht als komplette Backup-Datei verwenden kann. Denn mein Wahoo-Computer hat einen Teil der ersten Rampe nicht aufgezeichnet. Und so ist die Route auf Strava an einer Stelle unterbrochen. Immerhin konnte ich aber den Teil aus der Garmin-Datei ausschneiden und extra hochladen. Schadensbegrenzung.

Da gibt es wohl nur eine Lösung: Die Route irgendwann nochmal fahren. Und das werde ich. Die erste Bergtour meines Lebens hat mich süchtig gemacht. So süchtig, dass ich kürzlich den Brocken hochgefahren bin. Dem höchsten Berg, wenn man das Flachland hier mal etwas in Richtung Westen verlässt. Im Vergleich zu den Alpen nur eine Welle, aber auch eine schöne Erfahrung. Ich freue mich jetzt schon auf weitere Berge. Denn das ist jetzt klar: Das war nur der Anfang. Ein verrückter Anfang für jemanden, der nie zuvor das Flachland mit dem Rad verlassen hat. Ein unfassbares Abenteuer. Radfahren ist einfach großartig.


Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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