EM-Notizen, Tag 11: Österreich wie im Billa-Buch

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Österreich zieht nach einem 1:0-Sieg gegen Norwegen ins Viertelfinale ein und trifft dort auf Deutschland. England bestätigt mit dem 5:0-Sieg gegen Nordirland seine Form. Aber was war das für ein seltsamer Auftritt der Norwegerinnen?

Die Feiersinger aus Österreich erobern nach und nach mein Herz bei dieser Europameisterschaft. Noch weit nach Abpfiff habe ich mir in den sozialen Netzwerken Videos und Bilder von den tanzenden und feiernden Österreicherinnen angesehen.

Seit gestern Abend steht aber auch die Enttäuschung des Turniers fest: Norwegen kann starken Österreicherinnen nichts entgegensetzen und verliert mit 0:1. Aus in der Gruppenphase. Wie schon 2017 scheiden sie damit in der Gruppenphase aus. Die Zeit von Trainer Martin Sjögren könnte sich damit dem Ende neigen.

Denn nach diesen beiden Leistungen gegen England und Österreich gibt es keine Ausreden mehr. Seit 2017 ist er Trainer dieses Teams. Unter dem Strich stehen nun zwei katastrophale Auftritte bei Europameisterschaften.

Der Kader hätte mehr hergegeben. Angriff und Mittelfeld sind herausragend besetzt. Aber Norwegen schaffte es nie, diese Stärken auszuspielen. Stattdessen legte man mit einer viel zu passiven und zurückhaltenden Spielweise die Schwächen im Defensivbereich gnadenlos offen. Spielerinnen, die nicht auf ihren Stammpositionen agieren, “Verteidigerinnen”, die in der Offensive oder im Mittelfeld zu Hause sind – all das machte sich bemerkbar.

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Von Österreich düpiert: Maanuman, Norwegen!

Taktik ist im Fußball sicher viel wert. Und strategisch wie taktisch hatte dieses Norwegen nicht viel zu bieten. Doch von außen betrachtet scheinen die größten Probleme bei den Europameisterinnen von 1987 und 1993 woanders zu liegen.

Es schien beinahe so, als würden sich alle auf die Superstars Ada Hegerberg und Caroline Graham Hansen verlassen. Gebt ihnen den Ball und sie werden etwas damit anzufangen wissen. Vor allem aber gegen den Ball schien kaum jemand Verantwortung übernehmen zu wollen. Es war kaum zu fassen, wie leicht Österreich mitunter durch das norwegische Mittelfeld spazieren konnte.

Erst am Ende schien Norwegen etwas aufzuwachen. Das reichte aber nicht mehr, um den Sieg der Österreicherinnen ernsthaft zu gefährden. Die Statistiken unterstreichen, dass es den Norwegerinnen nicht gelang, die eigene Offensivpower auf den Platz zu bekommen.

Österreich gegen Norwegen: Statistiken

StatistikÖsterreichNorwegen
Abschlüsse188
Abschlüsse im Strafraum158
Expected Goals1,150,69
xG aus dem Spiel0,960,41

Die herbe 0:8-Niederlage gegen England tat sicherlich ihr Übriges. Verunsicherung und Angst vor einem weiteren Debakel waren zu spüren. Das Team schaffte es nicht mehr, sich von diesem Rückschlag zu erholen. Und so steht Norwegen mit leeren Händen da. Es wird einen Neuanfang brauchen. Derzeit ist nur schwer absehbar, wie das funktionieren soll.

Der Abstand zur Leistungsspitze scheint enorm zu sein. Gleichzeitig ist das Talent der Einzelspielerinnen unverkennbar. Manchmal hängt im Fußball dann doch sehr viel davon ab, wie es um die Teamdynamik bestellt ist.

Österreich krönt tolle Gruppenphase

Und das haben die Österreicherinnen bewiesen. Mit dem 1:0 krönen sie eine tolle Gruppenphase, in der sie sogar England vor große Probleme stellen konnten. Es ist wahrscheinlich immer einfacher, erfolgreichen Teams einen guten Zusammenhalt zu unterstellen. Wer die Feierlichkeiten nach dem Sieg gegen Nordirland oder jetzt gegen Norwegen beobachtet hat und auch den grenzenlosen Optimismus nach der Auftaktniederlage sah, kann aber zu keinem anderen Schluss kommen: Österreich verfügt über einen guten Teamspirit.

Eine ganz große Überraschung sind sie nicht, aber durchaus eine kleine – und das wissen sie auch auszukosten. “Laut Sportschau hat es ja schon geheißen: Norwegen gegen Deutschland”, sagte Barbara Dunst nach der Partie am Mikrofon der ARD: “Jetzt kann ich sagen: Österreich gegen Deutschland. In diesem Sinne liebe Grüße.” Man habe nun gezeigt, “dass es uns gibt.”

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In der Rolle der leichten Außenseiterinnen haben sie eine Dynamik entwickeln können, die sie nun bis ins Viertelfinale getragen hat. Geschlossenheit, Laufstärke und eine Grundaggressivität gegen den Ball sind herausragende Merkmale dieses Teams. Gegen Norwegen gewannen sie 86 % ihrer Tacklings.

Trainerin Irene Fuhrmann profitiert von einem großen Kern an Spielerinnen, die in der Bundesliga zu Hause sind. Eine Liga, die für sehr intensiven Fußball steht. Gleichzeitig profitieren die Spielerinnen davon, dass das Trainerteam diese Stärken (mittlerweile) gut einzubinden weiß.

Österreich: Sehr starkes Pressing, Fortschritte mit Ball

Österreich variiert im Pressing sehr klug, stellt die Räume gut zu. Das hatte man gegen England schon gesehen, die sich nicht nur wegen einer anfänglichen Nervosität schwer damit getan haben, dass sie im Verlauf des Spiels ganz unterschiedlich, aber immer wieder aggressiv angelaufen wurden.

Gerade das Mittelfeld mit Sarah Puntigam, Sarah Zadrazil und Laura Feiersinger scheint sich nun gefunden zu haben. Das betrifft die Ballgewinne, aber auch die Ballzirkulation.

Denn auch wenn Österreichs Markenzeichen das gut organisierte Pressing bleibt, so gab es einige Szenen, in denen sie sehr ansehnlich durch das Zentrum kombinierten und anschließend die Flügelräume über Barbara Dunst und Verena Hanshaw auf der einen sowie Laura Wienroither und Julia Hickelsberger-Füller auf der anderen Seite genutzt haben.

Szenenanalyse: Österreich druckvoll, aber nicht fehlerfrei

So entstand auch das 1:0 durch Nicole Billa nach einem langen Ball von Carina Wenninger in die Spitze, den Norwegen zunächst klären konnte. Österreich aber rückte nach, hatte sofort vier, fünf Spielerinnen in Ballnähe und eroberte den Ballbesitz zurück.

Eine Taktiktafel, die Österreichs Pressing vor dem 1:0 darstellen soll. Auf dem rechten Flügel machen sie den Raum sehr eng, sodass Norwegen unter Druck gerät. Trotzdem hätte Norwegen einen Weg heraus finden können. In der Mitte stehen drei Spielerinnen frei.

Wie eng Österreich den ballnahen Raum machen kann, zeigt diese Szene gut. Sie zeigt aber auch, dass es Möglichkeiten gibt, sich daraus zu befreien. Hier hätte die Norwegerin früher einen Weg in das offene Zentrum finden können. Stattdessen aber verlor sie den Ball. Auch weil Österreich sehr aggressiv ist. Unter Stress passieren eben Fehler. Zumal auch die Verlagerung aus dem roten Bereich heraus noch keine konkrete Gefahr gewesen wäre, weil die Restverteidigung gut steht.

Aber sie hätte Zeit gebracht. Österreich verlagerte nach Ballgewinn auf die linke Seite, wo Hanshaw mit einer tollen Flanke den Kopf von Billa fand. Das 1:0 war die Vorentscheidung, wie wir heute wissen.

Ein gut vorbereitetes und schönes Tor. Österreich überzeugt bei diesem Turnier nicht durch die höchsten Passquoten oder die längsten Ballstafetten, aber sie wissen, wie sie auch gute Gegnerinnen vom eigenen Tor fern halten können. Und dass sie jetzt mitunter das Kombinationsspiel für sich entdecken, macht sie noch gefährlicher.

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Österreich vor dem Nachbarschaftsduell

Nun geht es für sie gegen Deutschland. Es lohnt dabei erneut der Blick auf das Auftaktspiel. England erspielte sich mehr Abschlüsse (15 zu acht), mehr Expected Goals (1,9 zu 0,35) und hatte auch deutlich mehr Ballbesitz (60 %). Aber es ging eben nur 1:0 aus und es gab Chancen, dieses Spiel in eine andere Richtung zu drücken.

Spielt Österreich genauso mutig gegen Deutschland, haben sie trotz klar verteilter Rollen die Qualität, für eine Überraschung zu sorgen. So stark das DFB-Team bisher war, so problematisch waren in den letzten Jahre einige Auftritte gegen Teams, die ähnlich wie die Österreicherinnen agierten.

Es treffen vor allem aber zwei aufeinander, die bei dieser Europameisterschaft unter Beweis gestellt haben, wie wichtig Teamdynamik sein kann. Der Spaß, den Österreich und Deutschland auf dem Platz haben, überträgt sich auf alle Beobachter:innen – mal abgesehen von den Gegnerinnen. Ob dieses Viertelfinale ein Spektakel wird, sei mal dahingestellt.

Das Potenzial ist da, dass beide ihre jeweiligen Stärken neutralisieren können. Aber ich erwarte eine sehr intensive Partie, in der der Druck für beide Seiten enorm sein wird. Insofern könnte das ein temporeiches Viertelfinale mit hoher Intensität werden. Und wer auch immer das Halbfinal-Ticket bucht: Ich freue mich bereits sehr auf die Bilder und Videos danach.

Ausblick auf den EM-Tag

Deutschland steht vor einer vermeintlich unbedeutenden Partie gegen Finnland. Die Bundestrainerin hatte bereits angedeutet, dass sie Spielerinnen wie Lina Magull oder Sydney Lohmann schonen werde. Gelbsperren von Felicitas Rauch und Lena Oberdorf kommen hinzu. Darüber hinaus sei es aber auch wichtig, einen gewissen Rhythmus beizubehalten.

Insofern wird es interessant zu sehen, wie großflächig die Rotation tatsächlich ausfällt. Zumal Finnland ein guter Test für das Viertelfinale sein kann. Die Finninnen kommen ebenfalls über ein aggressives Pressing, stehen für gewöhnlich aber etwas tiefer als Österreich. Trotzdem wird Deutschland viel Ballbesitz haben.

Im anderen Gruppenspiel geht es heiß her. Dänemark will die Überraschung gegen Spanien packen und ins Viertelfinale einziehen. Spanien wiederum muss sich nach dem 0:2 gegen Deutschland rehabilitieren und Selbstvertrauen für die nächste Runde tanken. Denn da wartet bereits England auf eines der beiden Teams. Da ich Finnland und Spanien für den Rasenfunk begleite und gern noch mindestens ein weiteres Mal nach der Gruppenphase dabei wäre: VAMOS!

Weitere Beobachtungen

  • England bleibt on fire. Auch die Kadertiefe ist bemerkenswert. Da kommt mit Alessia Russo eine Stürmerin von der Bank und trifft wie sie will. Tor gegen Norwegen, Doppelpack gegen Nordirland. Bemerkenswert. Gerade weil Norwegen jetzt so schwach gegen Österreich war, bin ich aber sehr gespannt, wie sich das im Viertelfinale gestalten wird, wenn Spanien der Gegner sein sollte. Gegen Dänemark würde ich weniger Probleme für England sehen, weil sie ihr Flügelspiel da gut aufziehen können. Aber England in längeren Phasen ohne Ball? Das könnte interessant werden.
  • Chapeau, Nordirland! Ich habe es ja in meinen EM-Notizen immer mal wieder durchklingen lassen: Die Nordirinnen haben mich begeistern können. Sie sind die vielleicht größten Außenseiterinnen dieses Turniers, haben aber auf sehr vielen Ebenen zu überzeugen gewusst. Als die Fans am Ende gemeinsam mit den Spielerinnen feierten, war das ein echter Gänsehautmoment. Hoffentlich bewegt das etwas in der Heimat.
  • Manuela Zinsberger ist für mich jetzt schon die Torhüterin der Gruppenphase. Auch gestern parierte sie wieder einige Bälle mit großer Sicherheit. Allen voran der überraschende und verdeckte Abschluss, den sie noch gerade so an die Latte lenken konnte. Auch andere Torhüterinnen zeigten gute Paraden, aber Zinsberger war fast durchgehend gefordert und macht sowohl im Spielaufbau als auch in den Kernkompetenzen des Torwartspiels einen sehr sicheren Eindruck.
  • Ich hatte etwas Sorgen, dass die Einschaltquote unter der 2. Bundesliga leidet. Tatsächlich ist sie etwas eingebrochen. Die drei Marke von drei Millionen wurde abends eigentlich immer geknackt. 2,6 Millionen sind dennoch ein guter Wert. Zumal Sat.1 mit der 2. Bundesliga nur auf rund 1,7 Millionen kam. Den Abstand werden die Quoten von Sky auch nicht mehr aufholen können. Zumal ja auch bei der EM noch unbekannte Streamingzahlen hinzukommen. Kaiserslautern gegen Hannover mag nicht die ganz große Konkurrenz sein. Mich freut aber, dass die Euro 2022 trotz Zweitligastart einigermaßen stabil blieb. Ein gutes Zeichen. Auf das gesamte Quotenthema schaue ich wie angekündigt in einer zukünftigen EM-Notiz, wenn mal etwas mehr Ruhe da ist.
  • Ging es nur mir so, oder war das eine wirklich schöne Geste, als Ada Hegerberg inmitten der österreichischen Feierei demütig jeder einzelnen Spielerin gratulierte? Das ist der Spirit, den ich bei dieser EM insgesamt so liebe. Dazu zählen dann beispielsweise auch die nordirischen Fans, die sich der englischen Party einfach angeschlossen haben.
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Hör- und Leseempfehlungen

Heute nicht ganz so viele Links, weil ich gestern im Schichtbetrieb gearbeitet habe und sowohl Pause als auch die Stunden vor der Schicht für die letzte EM-Notiz genutzt habe. Danach war ich dann erstmal durch und auch Fußball stand ja schon bald wieder auf dem Programm.

Hier geht es zur letzten EM-Notiz. Thema: Frankreich und erste Anzeichen von Schwäche.

Bild: © Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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