EM-Notizen, Tag 28: England hat Fußball zu Hause
England gewinnt die Europameisterschaft. Im Finale schlagen sie Deutschland mit 2:1 nach Verlängerung. Meine Gedanken drehen sich aber um die Zukunft – und darum, dass es vielleicht gut so ist, dass die Engländerinnen triumphiert haben. Meine letzte EM-Notiz.
Gestern hatte ich eine Podcastaufnahme für Miasanrot. Im Vor- und Nachgespräch habe ich mit Georg Haas darüber diskutiert, wie man dieses Endspiel jetzt einordnen kann. Er sagte mir, dass er auf eine gewisse Art und Weise auch froh sei, dass England diese Europameisterschaft gewonnen hat.
Und das löste in mir einen Denkprozess aus. Denn ich war relativ schnell seiner Meinung. Um den englischen Fußball ranken sich viele Mythen, Geschichten und Legenden – wie in vielen anderen Ländern hauptsächlich männlich dominiert. „Football is coming home“ wird auf der Insel seit vielen Jahren geschmettert.
Wie cool ist es bitte, dass es jetzt die Frauen sind, die das verdammte Ding endlich wieder nach Hause gebracht haben? Was für eine unglaubliche Geschichte. Zumal sie das mit begeisterndem, ansehnlichem und tollem Fußball geschafft haben. Mit einer durchdachten und übergreifenden Strategie, die all das und somit auch die Ausrichtung des Turniers in dieser Form erst ermöglicht hat.
Der Alman in mir hat sich nach Abpfiff und kurz davor sehr darüber aufgeregt, wie abgezockt England diesen Titel nach Hause gespielt hat. Es ärgert mich auch heute noch, dass England relativ schnell zu Boden ging – das fiel mir auch in einigen Partien zuvor auf. Man kann sicher auch über die Schiedsrichterinnen und den Einsatz des VAR diskutieren (dann aber bitte auch über den Elfmeter, den England nach dem Hegering-Foul hätte bekommen können, eher müssen), oder über Zeitspiel. Aber indiskutabel ist für mich, dass England sich diesen Titel einfach verdient hat.
Für England bedeutet dieser Titel alles
Deutschland hätte ihn sich genauso verdient, aber es sind nun mal die berühmten Kleinigkeiten, die ein solches Finale entscheiden. Für England bedeutet dieser Titel alles. Die englischen Medien sind voll mit den Heldinnen von Wembley, mit Geschichten und Hintergrundstorys. Es ist so großartig zu sehen, wie sie gefeiert werden. Und es zeigt auf eine so wunderbare Art und Weise, dass es hier um Fußball geht – egal ob Männer oder Frauen. Der Vergleich mit den seit 1966 scheiternden Männern hat auch gar nichts mit einer Herabwürdigung zu tun.
Dass dieser Teil der englischen Geschichte von den Frauen geschrieben wurde, die in den letzten Jahren so hart an diesem Aufstieg gearbeitet haben, ist lediglich ein großartiges Gefühl. Und das bringt mich wieder zu meinem Gespräch mit Georg gestern: England ist Europas Vorreiternation im modernen Fußball der Frauen.
Schon vor Jahren sind sie den Weg der Professionalisierung gegangen und haben sich „getraut“, dafür richtig Geld in die Hand zu nehmen. Es wurde investiert. In Spielerinnen, Ausbildung und Strukturen. In England spielen Profis. Leistungssportlerinnen, die sich auf den Sport konzentrieren können.
In Deutschland ist das uneingeschränkt nur beim FC Bayern und dem VfL Wolfsburg möglich. Ich weiß nicht, ob der EM-Titel Englands am Mindset anderer europäischer Verbände etwas ändern wird. Es wäre wünschenswert, dass dieses Turnier als Ganzes ein Ansporn für andere ist, das auch zu erreichen. Die Begeisterung in England konnte ich aus diversen Gründen leider nicht vor Ort erleben. Aber sie hat mich dennoch erreicht.
Selbst England steht erst am Anfang
Was dieses Turnier nochmal in einem Land entfachen konnte, das schon in den Vorjahren sehr begeisterungsfähig für den Fußball der Frauen war, ist bemerkenswert. Und das eigentlich Schönste daran ist, dass auch England erst am Anfang steht – wie der Fußball der Frauen insgesamt. „Game changers“ titelte der Guardian am Tag nach dem Finale passend. Auf insgesamt 13 Seiten widmete er sich diesem monumentalen Erfolg.
Wir in Deutschland sind noch weit von der medialen Begeisterung entfernt, die ich auf der Insel wahrgenommen habe – und das von Anfang an. Hierzulande wird aus meiner Sicht auf allen Ebenen (DFB, Klubs, Berichterstattung) zu sehr auf kurzfristige Zahlen geschaut. “Es ist eben eine Investition”, sagte Georg zu mir. Eine Investition in die Zukunft, die Zeit und Geduld braucht, die aber auch Nachhaltigkeit verlangt.
Ich kann nicht während einer EM zwei, drei größere Artikel schreiben, dann auf die WM im nächsten Jahr warten und mich darüber beschweren, dass sich nichts bewegt – oder darüber, dass die wenigen Artikel wenig gelesen werden. Es gibt auch in Deutschland Positivbeispiele. Deshalb ist diese Passage nicht als Generalkritik zu verstehen. Dennoch glaube ich, dass wir alle in der Berichterstattung mehr investieren könnten, wenn es dann wieder um Bundesliga oder Champions League geht.
Berichterstattung in Deutschland: Mehr Mut zur Expertise
Langfristig wird sich eine Berichterstattung mit ehrlichem Interesse auch in den Zahlen bemerkbar machen. Dazu gehört dann auch, die Themen nicht an Leute zu vergeben, die sich mühsam einarbeiten müssen, weil sie sich damit nie zuvor beschäftigt haben. Natürlich spart das Geld im Vergleich zu einer kompetenten Journalistin. Es führt aber auch dazu, dass ohnehin nur gegenseitig abgeschrieben wird und Fehler gemacht werden. Das hilft dann niemandem.
Erst gegen Ende des Turniers, als Deutschland in Richtung Finale marschierte, nahm das Interesse an Expertinnen wie Annika Becker, Jasmina Schweimler oder Tamara Keller so richtig zu. Entschuldigt bitte, dass ich an dieser Stelle einige Namen nicht nenne, das sind einfach drei mir persönlich präsente Beispiele und sie sollen an dieser Stelle all die anderen kompetenten Expertinnen vertreten. Solche Stimmen braucht der Fußball. Über die Europameisterschaft hinaus.
Wer sich mit ihnen darüber unterhält, wird aber auch feststellen, wie schwer es für sie mitunter ist, mit diesem Thema Fuß zu fassen. Auch wenn sich einiges getan hat, so wird im Zweifelsfall dann doch wieder entschieden, an genau dieser Stelle einzusparen. Ich wünsche mir für die Zukunft mehr als den x-ten Agenturbericht und mehr Mut zur Expertise.
Es wird sich lohnen. Vielleicht nicht sofort an den Zahlen ablesbar, aber auf jeden Fall langfristig. Zumal auch Leser:innen den Unterschied merken. In Deutschland werden nach dieser EM immer noch viele sagen, dass das Interesse ähnlich wie 2011 oder nach anderen Turnieren versanden wird. Kurzfristig wird es vielleicht so kommen. Mittel- und langfristig, davon bin ich überzeugt, wird sich der Fußball der Frauen zunehmend in unserem Alltag etablieren.
England hat es allen vorgemacht
Aber zurück zur Europameisterschaft und England. Dieses Turnier wird dem Mutterland des Fußballs nochmal einen Boost geben. England hat allen vorgemacht, dass die Investitionen auf allen Ebenen sich bezahlt machen. Es braucht dazu keinen Mut, sondern einfach einen rationalen Blick.
Diese EM ist kein Höhepunkt. Sie war der Startschuss in eine neue Ära. Auch wenn wir in Deutschland davon in unserem grauen Alltag wohl erstmal nicht viel mitbekommen werden.
Und so bin ich doch irgendwie froh, dass sich die Arbeit Englands bezahlt gemacht hat – was bitte explizit nicht als Aussage gegen das deutsche Team verstanden werden soll. Vor dem Turnier habe ich geschrieben, dass die Leistungsspitze breiter geworden ist. Nach dem Turnier kann ich sagen, dass das stimmt.
Ich habe alle 31 Spiele gesehen, viele davon doppelt, wenige ausgewählte dreimal. Ich habe dieses Turnier aufgesaugt, genossen, analysiert und mich begeistern lassen. Von spektakulären Spielen bis hin zu Enttäuschungen und großen Überraschungen war alles dabei. Große Geschichten, die leider immer noch viel zu klein erzählt werden, aber auch Kontroversen wie die Debatte rund um die Leistungen der Schiedsrichterinnen. Volle Stadien, großartige Interviews und ein aufrichtiges Interesse neuer Zuschauer:innen – all das hat mich berührt und bewegt.
Persönliches Fazit zur EM 2022
Diese EM wird als eines der großartigsten und bedeutendsten Turniere in meiner persönlichen Geschichtsschreibung zum Fußball einen Platz finden. Ich habe mich 2019 vor der WM in Frankreich dazu entschieden, aus meinem rudimentären Interesse ein nachhaltiges zu machen und mich intensiv mit dem Fußball der Frauen zu beschäftigen.
Die Entwicklung allein in diesen drei Jahren ist schon bemerkenswert. Es macht so viel Spaß, das alles zu verfolgen und zu begleiten. Ich hoffe, dass die Begeisterungsfähigkeit des Fußballs der Frauen nachhaltig in großen Teilen unserer Gesellschaft hängen bleibt. Auch im grauen Alltag.
Es ist natürlich vorrangig die Aufgabe des DFB, der Klubs und auch der Medien, diese Steilvorlage zu nutzen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um in die Schulen und Vereine zu gehen und jungen Mädchen eine Perspektive im Fußball aufzuzeigen. Sei es als Hobby- oder als potenzielle Leistungssportlerinnen. An der Basis sollte die Arbeit beginnen, aber auch an der Spitze gibt es viel zu tun.
Es ist auch unsere Aufgabe als Gesellschaft, Klischees abzubauen und dem Fußball der Frauen die Akzeptanz zu verleihen, die er sich verdient. England hat dazu in den letzten Jahren sehr viel beigetragen. Deshalb ist der Triumph aus meiner Sicht verdient. Football came home. England hat Fußball zu Hause. Und diesmal kommt auf diesen Satz keine ironisch-sarkastische Antwort. Denn es fühlt sich wirklich so an, als wäre er zu Hause.
Wie es für mich jetzt weitergeht
Ich möchte mich auf diesem Weg dann auch nochmal bei allen bedanken, die meine EM-Notizen und auch meine anderweitige Berichterstattung rund um die Europameisterschaft verfolgt haben und/oder mit mir in den Austausch getreten sind. Das hat mir gezeigt, dass ich das nicht nur für mich und aus Interesse am Sport gemacht habe, sondern dass auch viele Menschen das verfolgt haben.
Einige sind mir erst während dieser EM gefolgt. Natürlich werde ich auch nach dem Turnier weiterhin über den Fußball der Frauen berichten – insbesondere über die Bundesliga. Für 1&1, so viel kann ich schon mal verraten, wird es spätestens ab Saisonstart wieder einen wöchentlichen Text geben. Diese EM hat bei mir die Lust auf noch mehr geweckt.
Gleichzeitig wird ein Teil meiner Aufmerksamkeit wieder auf den Fußball der Männer gerichtet sein. Ich bin gespannt, was die neue Saison bringt. Danke für euer Interesse und bleibt am Ball. Auch der Klubfußball (f) weiß zu begeistern.
Hör- und Leseempfehlungen
- Rasenfunk: It came home (die Schlusskonferenz zum Finale) und der große Turnierrückblick
- Euro 2022: our writers select their highs and lows (The Guardian, Englisch)
- Harte Arbeit bis zum Ernten der Früchte (Annika Becker)
- Wie geht’s nach dem Finale in Deutschland weiter? Übertragung, Marketing und die Falle des Erfolgs (Helene Altgelt, 90min)
Hier geht es zur letzten EM-Notiz.
Bild: © Canva
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