EM-Notizen, Tag 26: Traumfinale zwischen England und Deutschland

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Kaum hat die Europameisterschaft in England angefangen, schon ist sie wieder vorbei. Mit England und Deutschland bekommt das Turnier aber ein mehr als würdiges Finale. Drei Schlüsselduelle, die das Endspiel entscheiden könnten.

England und Deutschland stehen im Finale. Es sind nicht nur zwei große Fußballnationen, deren Wege sich in der Geschichte des Sports mehrfach kreuzten, sondern auch die beiden Teams, die insgesamt die besten Leistungen bei dieser Europameisterschaft gezeigt haben. Wer auch immer den Pokal am Ende in den Londoner-Nachthimmel heben wird: Es ist verdient.

Was ich wirklich bemerkenswert finde, ist der gegenseitige Respekt, den ich in beiden Ländern wahrnehme. Es gibt sicherlich auch Ausnahmen, aber größtenteils habe ich Artikel gelesen oder Podcasts gehört, in denen betont wird, wie toll es ist, dass ausgerechnet diese beiden Nationen im Finale stehen – und in denen beiden Nationen viel Anerkennung gezollt wird.

Wir sprechen hier schließlich über eine der größten Rivalitäten des europäischen Fußballs. “Ich erinnere mich an viele Duelle mit Italien, den Niederlanden oder Argentinien. Aber wir Deutschen haben einen Lieblingsgegner und das ist England”, schreibt der Sportjournalist Oliver Fritsch im Guardian.

Natürlich ist diese Erinnerung vor allem durch den männlichen Fußball aufgeladen – ganz trennen kann man das emotional sowieso nicht. Aber bemerkenswert ist, dass diese Feststellung nur zum Teil ein Seitenhieb ist. Die meisten wichtigen Duelle mit England hat Deutschland gewonnen. “Für mich und die meisten Menschen in meinem Alter ist England mehr als ein Rivale”, führt Fritsch weiter aus: “Wir haben sehr oft auf dem Fußballplatz gewonnen und es ist durchaus möglich, dass es diesmal wieder passieren wird. Aber eigentlich wollen wir wie die Engländer sein.”

England: Das Mutterland als großes Vorbild

Vor allem aus pop-kultureller Perspektive begründet er diese These. Aber auch auf den Fußball bezogen hat England, ob man mit ihnen nun sympathisiert oder nicht, eine große Geschichte. Das Mutterland des Fußballs. Der Ethos der einzig wahren Fußballnation ist für viele Deutsche nur schwer zu ertragen – auch weil sie sich eingestehen müssen, dass da viel Wahrheit mit dabei ist.

Auf den Fußball der Frauen bezogen war England einst auch in einer guten Position, als große Vorreiter:innen in die Geschichte einzugehen. Nach dem ersten Weltkrieg gab es Partien zwischen Frauenteams, die von mehreren tausend Menschen besucht wurden. Das heute populärste Beispiel ist das Duell der “Dick, Kerr Ladies” gegen St. Helen am Boxing Day 1920. 53.000 Zuschauer:innen kamen in den Goodison Park in Liverpool, den der FC Everton damals nicht annähernd so gut befüllen konnte.

Es dauerte nicht lange, bis der Fußball der Frauen als Gefahr angesehen wurde. Verbote, Restriktionen, gesellschaftlich von Männern etablierte Häme folgten. Ein Trauerspiel. Etwas mehr als 100 Jahre sind seitdem vergangen. Heute sind die Engländer:innen wieder in der Vorreiterrolle.

“Alle wollen nach England”

England ist der Maßstab geworden. Wer die Entwicklung und die Potenziale des Fußballs der Frauen erklären möchte, blickt auf die Insel. Anfang des Jahres sagte mir Bianca Rech, sportliche Leiterin des FC Bayern, dass es schwer wäre, Spielerinnen in Deutschland zu halten: “Alle wollen nach England.”

Das hat mitunter finanzielle Gründe – aber vor allem deshalb, weil das Geld in Strukturen investiert wurde. Trainingsbedingungen, Grundgehälter, professionelle Übertragungen, Events, kluge TV-Rechte-Vermarktung, Marketing und so vieles mehr – England zeigt, wie “Equal play” funktionieren kann.

Deshalb ist nicht gleich alles der Goldstandard, was aus England kommt. Doch dieses Turnier ist weitere Werbung für den englischen Fußball und all die Entwicklungen, die dort seit vielen Jahren vorangegangen sind.

Deutschland: Die einstige Nation der Vorreiter:innen

Auf der anderen Seite stehen die Deutschen. Eine Nation, die einst in der Position der Vorreiter:innen war und diese in den letzten zehn Jahren zunehmend verlor. Hauptgrund dafür war die fehlende Bereitschaft, in den damals schon zunehmend an Popularität gewinnenden Fußball der Frauen zu investieren.

Für den DFB ist der Erfolg bei dieser Europameisterschaft sehr wichtig. Nicht nur, um zu zeigen, dass man nach wie vor um große Titel spielen kann. Sondern maßgeblich vor dem Hintergrund, dass diese EM-Teilnahme der Deutschen wie keine andere zuvor unter dem Motto “Equal play” steht. Deutschland hat sich extrem professionell auf dieses Turnier vorbereiten können.

In Herzogenaurach bekam das Team am Adidas-Campus Möglichkeiten zur Verfügung gestellt, die sonst nur den Männern vorbehalten sind. Da geht es um Kleinigkeiten wie gute Rasenplätze oder tolle Räumlichkeiten. Es geht aber auch um infrastrukturelle Themen und Trainingsmöglichkeiten im theoretischen und praktischen Bereich.

Hinzu kommt der Zugriff auf das Trainer:innennetzwerk des DFB. Mit Jan-Ingwer Callsen-Bracker ist 2019 ein Spezialist für “neurozentriertes Training” vom Verband verpflichtet worden. Er wird eingesetzt, wo er eben gerade gebraucht wird – aktuell beim A-Nationalteam der Frauen. Er arbeitet an der Bewegungseffizienz der Spielerinnen. Der 37-Jährige erklärte dazu selbst, dass er die Reizverarbeitung des Gehirns verbessern möchte.

DFB und England zeigen, wie wichtig Strukturen sind

Spezialtraining, das in Frauenabteilungen vor einzigen Jahren noch undenkbar war. Trainer:innenteams bei den Männern sind bis heute in der Regel breiter aufgestellt. Auch und gerade in der medizinischen Abteilung bei Klubs und Verbänden beklagten Spielerinnen in der Vergangenheit häufig Missstände.

Dass sich das deutsche Team in kürzester Zeit so entwickeln konnte, wie es sich zuletzt entwickelt hat, ist somit auch darauf zurückzuführen, dass ihnen die Möglichkeit dazu gegeben wurde. Es ist ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig Strukturen sind und wie wichtig es ist, sich psychologisch komplett auf die Kernaufgaben einlassen zu können, ohne mit dem Kopf ständig woanders sein zu müssen.

Diese Erkenntnis sollte sich der DFB ganz oben auf der Liste notieren. So berechtigt die kritische Betrachtung der Prämienvergabe auch ist: Vielen Spielerinnen geht es maßgeblich genau um diese strukturellen Themen. Und Deutschland zeigt, warum das so ist – England übrigens auch.

England gegen Deutschland: Die Schlüsselduelle

Jetzt steht also dieses Finale zwischen zwei Nationen an, die zwar aus unterschiedlichen Richtungen kommen, die sich aber zu Recht als die beiden besten Teams dieser EM etabliert haben. Es ist ein Duell, das trotz der Enttäuschung der sportlichen Verliererinnen mittelfristig nur Gewinnerinnen kennen wird.

Für England ist es die große Bestätigung des bisher eingeschlagenen Weges. In Deutschland kann der Erfolg hoffentlich einige Entwicklungen beschleunigen. So angebracht Skepsis angesichts der letzten Jahre und Monate auch ist, so sehr gibt der Finaleinzug dem Fußball der Frauen eine gewisse Lautstärke, die im Kampf für Veränderung wichtig sein wird.

Und so ist dieses Finale nicht nur sportlich spektakulär, sondern auch weit darüber hinaus sehr wichtig und interessant. Doch wer verschafft sich die bestmögliche Ausgangslage für die kommenden Jahre und holt sich den EM-Titel? Drei Schlüsselduelle, die entscheidend werden könnten.

1. Wer kommt besser mit der Atmosphäre klar?

Das Wembley-Stadion wird mit gut 87.000 Zuschauer:innen ausverkauft sein. Eigentlich ist der erste Gedanke recht klar: Vorteil England. Heim-EM, volle Hütte, ein bisher sehr starkes Turnier und der Rückhalt von so vielen Menschen – was soll da schon passieren? Zumal Deutschland nicht nur gegen die elf Engländerinnen, sondern von der ersten Sekunde an auch gegen die Atmosphäre antreten muss.

Aber ist das wirklich so? Das Eröffnungsspiel im Old Trafford sorgte bei der einen oder Engländerin für weiche Beine. Nun haben sie diese Erfahrung bereits hinter sich gelassen und auch im Turnierverlauf vor vielen Fans gespielt. Aber Wembley ist eine andere Nummer. Der Druck, dieses Turnier jetzt auch zu gewinnen, ist enorm. Für England wird vieles davon abhängen, wie sie in dieses Spiel finden.

Davon kann Deutschland vielleicht profitieren. Mit ihrer druckvollen Spielweise sind sie in der Lage, ein Spiel frühzeitig in die eigene Richtung zu lenken. Zumal viele Wolfsburgerinnen in der Startelf stehen, die in der vergangenen Saison bereits eine negative Erfahrung vor großem Publikum gemacht – und daraus wahrscheinlich gelernt haben.

Mit 1:5 verlor der VfL im Champions-League-Halbfinale beim FC Barcelona. Die Atmosphäre dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben. Ein Indikator dafür, dass es diesmal wieder ein Problem wird? Bisher wirkt das deutsche Team sehr leistungsstabil. Eine Vorhersage, wer besser mit diesem besonderen Spiel umgeht, ist unmöglich. Für beide gibt es Chancen und Risiken – aber Wembley kann an diesem Abend seine Wirkung in alle Richtungen entfachen.

2. Welche Bank macht den Unterschied?

Manchmal sind Fußballspiele bereits entschieden, bevor es zu den ersten Auswechslungen kommt. So verrückt der Sport auch ist: Rechnen sollte man damit im EM-Finale wohl eher nicht. Und so kann es sein, dass die Kaderbreite über den Titel entscheidet.

Bei den Engländerinnen sitzt eine gewisse Alessia Russo auf der Bank, die bereits vier Jokertore erzielt hat. Deutschland kann offensiv ebenfalls ordentlich nachlegen. Beide stehen auch deshalb im Finale, weil sie über sehr breite Kader verfügen. Diese Qualität kann auch im Finale wieder den Unterschied machen.

3. Die individuellen Duelle

Wenn Duelle derart auf Augenhöhe stattfinden wie dieses, dann sind es kleine Details, die am Ende entscheiden. Wer ist effizienter? Und wer setzt sich in den kleinen individuellen Duellen durch? Deutschland hat es im Turnierverlauf so gut wie kein anderes Team geschafft, das eigene Tor als Kollektiv zu verteidigen und immer wieder Überzahlsituationen in Ballnähe herzustellen. Auch gegen England? Folgende Duelle könnten entscheidend sein:

Lucy Bronze und Beth Mead gegen Felicitas Rauch und Co.

Die rechte Seite von England ist extrem gefährlich. Bronze ist die wohl offensivstärkste Außenverteidigerin des Turniers, während Mead bereits sechs Tore erzielt hat. Rauch ist auf deutscher Seite nicht immer stattelfest in der Defensive. Hier müssen Marina Hegering, Lena Oberdorf und die rechte Offensivspielerinnen tatkräftige Unterstützung leisten.

Millie Bright gegen Alexandra Popp

Die Kopfballstärke der beiden Spielerinnen ist bekannt. Flanken waren bisher so gar kein Erfolgsmittel gegen England. Gelingt es Deutschland, das zu ändern? Es könnte spielentscheidend sein, ob Popp sich auch gegen die wuchtige englische Defensive durchsetzen kann.

Lena Oberdorf gegen alle

Oberdorf ist eine der Spielerinnen des Turniers. Ihre resolute Zweikampfführung wird vor allem gegen die dynamische Georgia Stanway sehr wichtig sein.

Mittelfeldkontrolle

Wie gut wird es Deutschland gelingen, den englischen Sechser- und Achterraum aus dem Spiel zu nehmen? Die Engländerinnen hatten immer dann Probleme, wenn Keira Walsh und auch Stanway nicht so richtig Anbindung zum Ballbesitzspiel hatten. Dann wurden die Abstände groß und England schlug häufiger lange Bälle oder spielte sogar Fehlpässe.

Auf der anderen Seite wird Deutschland wohl wieder vermehrt über die Außenbahnen aufbauen. Da wird es interessant zu sehen, wie England die Wege in die Halbräume schließen kann. Deutschland hat im Duell einen kleinen Vorteil: Sie haben bewiesen, dass sie sowohl mit Ball als auch ohne Ball sehr stark sind. England hingegen geriet vor allem gegen Spanien ins Schwimmen, wenn sie längere Zeit ohne Ball waren. Gelingt es Deutschland, solche Phasen zu etablieren?

England gegen Deutschland: Prognose

Ob das wieder so gut klappt? 2:1 für England.

Hör- und Leseempfehlungen

Hier geht es zu meiner letzten EM-Notiz.

Eine letzte EM-Notiz wird es noch geben, aber ich weiß noch nicht, ob ich diese morgen schaffe. Gut möglich, dass sie erst am Dienstag erscheint.

Bild: © Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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