Rassismus geht uns alle etwas an – und nicht nur England

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Im Finale der Europameisterschaft schlägt Italien seinen Gegner England vor deren eigenem Publikum mit 3:2 nach Elfmeterschießen. Für England verschießen mit Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka drei Spieler. Sie alle werden anschließend vor Ort und in den sozialen Netzwerken mit Rassismus konfrontiert.

Die Empörung im Netz ist bereits kurze Zeit nach Abpfiff, spätestens aber am nächsten Morgen groß. England, vielerots ohnehin schon zuvor wegen eines umstrittenen Elfmeters, polarisierender Spielweise und respektlosem Verhalten einiger Fans als “Bösewicht” der Europameisterschaft abgestempelt, verliert nicht nur das Finale, sondern präsentiert sich in Teilen abermals von einer inakzeptablen Seite. In den sozialen Netzwerken werden einige Fans beleidigend, darunter auch viele rassistische Kommentare gegen die für das Elfmeterschießen eingewechselten Rashford und Sancho. Auch Saka kam in der zweiten Halbzeit der regulären Spielzeit von der Bank. Alle drei vergaben dann vom Punkt.

23, 21, 19 – so jung sind die drei Spieler noch. Dass insbesondere jungen Spielern in einer derartigen Drucksituation Fehler unterlaufen, ist ganz normal. Dass es auf diese dramatische Art und Weise passiert, ist an sportlicher Tragik wiederum kaum zu überbieten. Das alles ist aber keine Rechtfertigung dafür, die Spieler zu beleidigen und schon gar nicht dafür, sie auf ihre Hautfarbe zu reduzieren. Der Druck im Fußball ist ohnehin schon enorm. Wie groß er dann für diese Spieler in einem Finale bei der Europameisterschaft ist, kann sich jede:r denken. Wie viel größer er darüber hinaus vor eigenem Publikum wird, ist kaum nachzuempfinden.

Gerade vor englischem Publikum, das seit 1966 auf einen Titel wartet und sich selbst stets als Vorzeigenation des Fußballs inszeniert. Es wird für die drei Spieler nicht das erste Mal in ihrem Leben gewesen sein, dass sie sich mit derart explizitem und stumpfem Rassismus konfrontiert gesehen haben. Traurigerweise wird es auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Womöglich spielt auch das in einer solchen Drucksituation eine Rolle, wenn die Spieler den langen Weg zum Elfmeterpunkt antreten. Worüber sie in dieser Situation nachdenken und welche Bedeutung sie dem folgenden Schuss beimessen, ist reine Spekulation. Aber dass Sport für viele ein Kanal ist, den sie im Kampf gegen Rassismus nutzen wollen, ist auch klar. Und das ist gut so. Nur sollte der Wert eines Menschen niemals davon abhängen, ob er verliert oder gewinnt. Nicht im Sport und auch nicht woanders.

Rassismus ist ein großes Problem – überall

Doch die Frage, die sich nach den vielen rassistischen Kommentaren stellt, ist: Wie gehen wir als Gesellschaft damit um? Nicht wir als deutsche Gesellschaft. Auch nicht die, als englische Gesellschaft. Sondern wir alle. Mindestens als westliche Gesellschaft.

Ich will an dieser Stelle niemanden bloßstellen und verzichte deshalb auf Zitate und Tweets, die als Reaktion auf den Rassismus einiger englischer Fans gepostet wurden. Der Tenor war vielerorts aber recht ähnlich. Viele Pauschalurteile und viel Schadenfreude gegen die gesamte englische Nationalmannschaft, gar gegen das ganze Land entlud sich in den letzten Stunden.

Oft wurde der moralische Zeigefinger erhoben, als sei England das Problem. Als sei es gut, dass Italien dieses Finale gewonnen hat. Die “Squadra Azzurra” als Ritter im Kampf gegen den Rassismus? Menschlich und psychologisch sind diese Reaktionen nachvollziehbar. Aber sie blenden aus, dass nicht England dieses Problem exklusiv für sich hat, sondern die Gesellschaft insgesamt.

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Reflektion über die Kolonialgeschichte und das eigene Verhalten

Italien, England, Deutschland, Frankreich, Europa, die ganze Welt. Wer Rassismus verstehen möchte, muss sich unweigerlich mit der Geschichte des Kolonialismus auseinandersetzen. Nicht oberflächlich, sondern intensiv. Denn daraus resultieren diese gesellschaftlichen Probleme. Und vielleicht ergeben sich beim Reflektieren über diese lange und vielschichtige Geschichte, die in vielen Schulen nach wie vor unterrepräsentiert ist oder aus einer weißen Perspektive gelehrt wird, auch Lösungsansätze.

Keine Lösung ist es jedenfalls, England pauschal zu verachten, als wäre das, was gestern und heute passiert ist, nicht auch unser aller Problem. Der Rassismus, der sich an den drei englischen Spielern entladen hat, war derart explizit, dass er unstrittig als solcher identifiziert werden konnte. Allerdings kommt Rassismus nicht immer, vielleicht sogar viel seltener so offen und deutlich daher als in seiner unscheinbaren und strukturellen Form.

Gesellschaftliche und strukturelle Benachteiligung für BIPoC wird trotz statistischer Nachweisbarkeit klein geredet. In Witze getarnte Klischees und Stereotypen werden als Humor verkauft. Zu allem, was keine explizite Beleidigung darstellt, lässt sich mindestens ein relativierender Kommentar finden. Rassismus geht auch schon da los, wo beispielsweise über Selbstbezeichnungen diskutiert wird, weil manche Menschen zu bequem sind, ihren eigenen Sprachgebrauch zu reflektieren und anzupassen.

Rassismus ist mehr als seine explizite Form

Ein ganz zentrales Problem ist, dass viele Menschen gar nicht erst dazu kommen, über Kritik an ihrem Sprachgebrauch oder ihren alltäglichen Verhaltensweisen zu reflektieren, weil sie das Wort “Rassismus” als persönlichen Angriff werten. Statt darüber nachzudenken, ob der Vorwurf zumindest in Teilen berechtigt sein könnte, fühlen sie sich missverstanden. “Ich? Ein Rassist? Niemals!”

Rassismus ist deshalb ein so schwerwiegendes Wort, das uns zunächst mindestens für einen Moment aus der Fassung bringt, wenn es im Zusammenhang mit uns verwendet wird, weil wir damit eben jene eindeutige Menschenfeindlichkeit verbinden, die die englischen Spieler in der Nacht nach ihrer größten Niederlage erfahren mussten.

Wenn wir davon einen Schritt zurücktreten und akzeptieren, dass wir aufgrund der Kolonialgeschichte und der dadurch tief verankerten rassistischen Denk- und Handlungsmuster ebenfalls nicht frei davon sind, fällt es uns auch einfacher, über eigene Privilegien zu reflektieren. Ich persönlich halte das für den wichtigsten Schritt auf einem sehr weiten Weg. Betroffenen zuhören, Kritik an sich nicht als Vorwurf abstempeln und regelmäßig darüber nachdenken, wie wir als weiße Menschen, insbesondere als weiße Männer in unserer Gesellschaft allein schon deshalb Vorteile haben, weil wir etwas sind oder etwas haben, was wir selbst nicht beeinflussen konnten.

Rassismus ist nicht das Problem der Engländer. Er ist auch nicht das Problem des Fußballs. Und er ist längst nicht immer so leicht zu identifizieren wie in den letzten Stunden. Wir sollten nicht pauschal mit dem Finger auf andere zeigen. Eine klare Position gegen Rassismus ist wichtig, aber wenn es nur darum geht, sich selbst besser zu fühlen, stehen hinter der Position die falschen Motive. Stattdessen sollten wir erstmal bei uns selbst anfangen. Zumal die rasche Empörung über den Vorfall auch schnell wieder abklingen und nachhaltig wenig bis nichts verändern wird.

Rassismus geht uns alle etwas an. Weil er eben mehr ist als seine explizite Form. Und genau das macht ihn noch viel gefährlicher.

Weiterführende Literatur und Links:

EXIT RACISM von Tupoka Ogette
Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten von Alice Hasters
Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche
Instagram-Account “erklaermirmal”
Instagram-Account “wirmuesstenmalreden”
Instagram-Account “black_is_excellence”
Kolonialismus wird in der Schule kaum behandelt – swr
Englands Nacht der rassistischen Schande – n-tv
Musa Okwonga: ‘Boys don’t learn shamelessness at Eton, it is where they perfect it’ – theguardian
Deutschland Schwarz Weiß – Noah Snow
Why We Matter – Emilia Roig
Schwarze Adler – Wie rassistisch ist der deutsche Fußball? – ZDF




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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