EM-Notizen, Tag 22: Deutschland gegen Frankreich – drei Schlüsselduelle

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Deutschland und Frankreich haben am Abend die Chance, England in das Finale der Europameisterschaft zu folgen. Drei Schlüsselduelle, die das Spiel entscheiden könnten.

Eigentlich sollte Deutschland gegen Frankreich ein sehr erwartbares Halbfinale bei einer Europameisterschaft sein. Die achtmaligen Europameisterinnen einerseits, die über viele Jahre das sportliche Geschehen auf diesem Kontinent dominierten. Andererseits die Französinnen, die im Klubfußball mit Olympique Lyon das Maß aller Dinge stellen und auch dahinter mit Paris Saint-Germain gut aufgestellt sind.

Allein ein Blick auf die beiden Kader verführt zu der Aussage, dass dieses Duell ein vorweggenommenes Finale ist. Gleichzeitig sind beide Teams aber auf ihre Art und Weise eine Turnierüberraschung. Deutschland gelang seit Olympia 2016 kein Achtungserfolg mehr. Im Vorfeld des Turniers wurde sogar darüber spekuliert, ob in der Gruppenphase Schluss sein könnte.

In Frankreich steht Corinne Diacre seit jeher unter besonderer Beobachtung. Die Trainerin soll es sich mit Top-Spielerinnen verscherzt haben, ihre autoritäre Art und Weise stand immer wieder in der Kritik. Je weiter diese EM aber voranschreitet, und das wurde im Rasenfunk kürzlich so schön beschrieben, desto mehr scheint dieses Bild zu kippen.

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Frankreich mit großer Klasse, Deutschland mit Geschlossenheit?

Die Stimmung im Team scheint zu passen. Diacre scheint einen Mix aus Spielerinnen gefunden zu haben, die zueinander, aber auch zu ihr als Trainerin passen. Hinzu kommt der Fakt, dass sie sich offenbar auch mit Wendie Renard vertragen konnte, der sie einst die Armbinde entzog. Womöglich ist die französische Geschichte wieder mal eine, die uns vor Augen führt, dass nicht alles Schwarz oder Weiß ist.

Weder wird Diacre sich nach einem etwaigen EM-Triumph von aller Kritik aus der Vergangenheit loslösen können, noch ist sie allein verantwortlich für das, was in den letzten Jahren passiert ist. Und vielleicht war es genau die richtige Entscheidung, erfahrene Spielerinnen auszusortieren, wenn sie eventuell nicht ins Teamgefüge passen. Von außen unmöglich zu beurteilen.

Aber Frankreich steht eben im Halbfinale und sie haben mit ihrer Offensivpower gute Karten auf den Titel. Allein mit Blick auf die Angriffsreihe war das schon vor dem Turnier ziemlich klar. Wirklich gefährlich macht die Französinnen aber diese Teamdynamik, die sich zu entwickeln scheint.

Schlüsselduell 1: Schafft Frankreich den Sprung zum Team?

“Teamgeist” ist von außen schwer zu greifen. Eindrücke werden durch das gelenkt, was bei uns ankommt. Auf den ersten Blick scheint es uns klar zu sein, dass dieses deutsche Team in Sachen Zusammenhalt und Geschlossenheit niemand übertrumpfen kann. Unser Fokus liegt hier in Deutschland aber auch sehr stark auf dem DFB.

Durch unsere Perspektivierung fühlen wir uns diesem Team deutlich näher als dem französischen – rein inhaltlich und nicht zwingend emotional. Eins ist aber ziemlich klar: Das Duell mit Deutschland wird zeigen, wie weit Frankreich als Team wirklich ist. Es wird für sie das erste Spiel sein, in dem die eigene individuelle Klasse zumindest nicht deutlich überragt.

Frankreich profitierte bisher in allen Partien davon, dass sie in mehreren Teilbereichen eine klare Überlegenheit auf den Platz brachten: Körperlichkeit, technische Grundqualität, Tempo, Handlungsschnelligkeit. Es wird spannend zu sehen, ob das allein auch gegen Deutschland reicht, um sich durchzusetzen.

Für die Französinnen ist es an der Zeit, zu beweisen, dass sie mehr sind als ihre sehr starken Einzelteile. Deutschland wiederum muss für ein Weiterkommen zeigen, dass sie sich auch auf individueller Ebene weiter steigern können. Gerade das technische Niveau fiel gegen Österreich an der einen oder anderen Stelle ab. Weiterkommen wird wohl, wer die “Schwächen” jeweils am besten kompensieren kann.

Schlüsselduell 2: Tempo gegen Intensität

Worauf ich mich bei diesem Duell am meisten freue? Auf physische Eigenschaften. In der Leichtathletik wäre Frankreich wohl eher eine Sprinterin, während Deutschland einer Marathonläuferin gleichkommt. Die Französinnen beherrschen Intervalle wie kaum ein anderes Team. Aus dem Nichts können sie das Tempo derartig anziehen, dass kaum jemand mithalten kann. Ein Moment der fehlenden Achtsamkeit und schon sind zwei Spielerinnen durch, die nicht mehr einzufangen sind.

Deutschland wiederum hat weniger klar erkennbare Intervalle. Die Intensität ist über die gesamte Distanz sehr hoch. Es gibt kaum Phasen, in denen sich das Team zurücklehnt oder an Power verliert. Und genau diese unterschiedlichen Herangehensweisen könnten das zweite Halbfinale prägen.

Frankreich hat das Potenzial, Deutschland in den Phasen zu überrennen, in denen sie am Maximum spielen. Dafür hat Deutschland die Qualität, die Französinnen in den Momenten zu zermürben, in denen sie sich Auszeiten nehmen. In Phasen, in denen Frankreichs Leistungsfähigkeit den Höhepunkt erreicht, könnte Deutschland das Nachsehen haben. Aber wie viele solcher Phasen wird es geben? “Les Bleues” hat bisher in allen vier Spielen sehr wechselhaft agiert.

Und genau dann ergeben sich die Chancen für Deutschland. Denn wenn Frankreich das eigene Tempo nicht durchhalten kann, wird es sehr schwer für sie, der deutschen Intensität etwas entgegenzusetzen. Sprinterin gegen Marathonläuferin – jetzt fehlt nur noch die Antwort auf die Frage, was dieses Fußballspiel am heutigen Abend eigentlich ist: Ein Sprint oder eine Langstrecke? Es wird wohl davon abhängen, was die Teams daraus machen.

Schlüsselduell 3: Wer ist effizienter?

Jetzt habe ich bereits das dritte Schlüsselduell erreicht und immer noch deutet nichts darauf hin, dass ich auf taktische Aspekte eingehe. Ganz einfach: Ich glaube nicht, dass die taktischen Ausrichtungen der beiden Teams den großen Unterschied machen werden. Dafür ist Frankreich zu sehr darauf aus, die individuelle Klasse in Form von Tempo und Eins-gegen-eins-Situationen sowie Laufduellen einzubringen.

Und Deutschland? Die werden sicher das eine oder andere Element taktisch anpassen, um sich darauf gefasst zu machen. Aber wie Martina Voss-Tecklenburg es richtig sagte: “Wir sind taktisch gut vorbereitet, aber es wird Mentalität brauchen und es wird wehtun.”

Es werde “ganz viel an uns liegen und an dem, was wir zulassen. Mit Frankreich kommt eine Top-Mannschaft mit einigen Stärken auf uns zu, aber wir haben auch gesehen, wo sie verwundbar sind.” Effizienz wird ein entscheidender Faktor sein. Während Frankreich zuletzt sehr viele gute Chancen liegen ließ, brauchte Deutschland nicht viele Möglichkeiten für Tore.

Wer die oben beschriebenen Phasen am effizientesten in Tore ummünzen kann, wird sich das Finalticket am Ende wohl krallen. So einfach kann Fußball sein. Und wir können uns auf ein echtes Top-Spiel freuen.

Ausblick auf den EM-Tag: Prognose

Ich glaube nach wie vor, dass Frankreich verwundbar ist. Bei aller Begeisterung, die sie mit ihren Offensivläufen ausgelöst haben, sehe ich gute Karten für Deutschland, vor allem in den lethargischen Phasen der Französinnen richtig Druck zu machen, den Frankreich bisher so nicht erfahren hat.

Auf der anderen Seite frage ich mich, wie sattelfest Deutschland ist, wenn Frankreich das eigene Tempo auf die Strecke bekommt. Vor allem Felicitas Rauch ist auf der rechten Seite ein Anlaufpunkt, den Frankreich nutzen könnte. Zumal Klara Bühl aus meiner Sicht vor allem mit ihrer Bereitschaft im Defensivspiel fehlen wird. Auch Gwinn war nicht immer stabil, wenn es in Laufduelle ging. Weil ich mir am Ende nicht vorwerfen lassen möchte, dass ich es gejinxt habe: 2:1 für Frankreich.

Hör- und Leseempfehlungen

Hier geht es zu meiner letzten EM-Notiz.

Bild: © Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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