EM-Notizen, Tag 18: Schweden mit Mühe – Unterschied zwischen Zahlen und Augen

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Schweden müht sich gegen Belgien zu einem 1:0-Sieg. Damit stehen sie im Halbfinale, doch da könnte der Weg für die Schwedinnen gegen England enden – wenn keine Leistungssteigerung kommt.

Statistiken und Zahlen erzählen selten die ganze Wahrheit. Beobachter:innen tun das aber genauso wenig. Schauen wir uns die Daten des Viertelfinals zwischen Schweden und Belgien an, kommen wir zu einer ganz klaren Erkenntnis: Schweden hat es lange verpasst, aus zahlreichen Chancen ein Tor zu machen.

33 Abschlüsse hatten die Schwedinnen, darunter vier Großchancen und 25 innerhalb des belgischen Strafraums. Neun gingen auf das Tor. 3,86 erwartbare Tore haben sich die Silbermedaillengewinnerinnen der letzten olympischen Spiele erarbeitet. Am Ende steht “nur” das späte 1:0 durch Innenverteidigerin Linda Sembrant.

Auch defensiv erzählen uns die Werte, dass Schweden einen sehr guten Job erledigt hat. Belgien kam nur zu drei Abschlüssen, keiner davon war eine richtige Großchance. 0,09 erwartbare Tore erzählen die vermeintliche Geschichte von Außenseiterinnen, die klar unterlegen waren.

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Schweden: Diskrepanz zwischen Zahlen und Augen

Und dann gibt es da die vielen Beobachter:innen. Die Meinung, Schweden hätte hier eine souveräne und sehr starke Leistung gezeigt, ist eher selten vertreten. Einig sind sich die meisten darin, dass Schweden sich sehr schwer getan hat mit der defensiven Organisation Belgiens.

Tatsächlich war es nicht sonderlich kreativ, was Schweden im Offensivspiel anzubieten hatte. Sieben Abschlüsse von Filippa Angeldal – die meisten aus der Distanz oder dem Rückraum – und 28 Flanken waren das taktische Mittel der Wahl. Darunter nur wenige Flanken, die ich als gut herausgespielt oder organisiert betrachten würde.

Schweden griff früh im Verlauf des Spiels auf die Brechstange zurück. Schnellstmöglich den Ball in die Offensive bringen und dort auf die Faktoren der individuellen Überlegenheit und Glück vertrauen. Das war in der Gruppenphase auch gegen Portugal und die Schweiz so zu erkennen. Als dritte Säule kommen Standardsituationen hinzu, nach denen Schweden sehr viel Gefahr erzeugen kann.

Schweden offensiv zu monoton

Das ist eine legitime Herangehensweise gegen auf dem Papier unterlegene Teams. Bedenklich ist aber, dass Schweden defensiv einiges angeboten hat. Und das erzählen einem die Zahlen eben nicht. Vorrangig liegt das daran, dass Belgien wie schon in der Gruppenphase einige Kontersituationen fahrlässig liegen ließ. Mehrfach dribbelten sich die Red Flames fest, statt häufiger den Abschluss oder die besser postierte Mittelfeldspielerin zu sehen.

Vor allem im zentralen Mittelfeld hat Schweden die Räume oft nicht geschlossen bekommen. Die vertikalen Abstände zwischen den Teamteilen waren zu groß. Die Probleme, die Schweden jetzt in allen vier Spielen mehr oder weniger zeigte, gilt es im Halbfinale abzustellen.

Dann geht es gegen die Gastgeberinnen. Was England mit viel Raum im Mittelfeld anstellen kann, zeigten sie zuletzt beim 2:1-Treffer durch Georgia Stanway gegen Spanien.

Erfahrung und Selbstvertrauen: Kann Schweden England überraschen?

Auf der anderen Seite sollte Schweden nicht unterschätzt werden. Bei vergangenen Turnieren war das Team häufig sehr gut darin, an den eigenen Aufgaben zu wachsen. Auch da lief nicht immer alles hundertprozentig überzeugend ab.

Schweden verfügt über immense Erfahrung. Erfahrung, die jetzt in der heißen Turnierphase entscheidend werden kann. Und das ist dann eben das Problem und Beobachtungen und Zahlen – oder viel mehr das Schöne am Fußball: Wir können nur erahnen, wie das Spiel gegen England für Schweden läuft.

Statistiken und Zahlen erzählen selten die ganze Wahrheit. Unsere Beobachtungen unterscheiden sich manchmal von ihnen. Das Viertelfinale zwischen Schweden und Belgien war ein gutes Beispiel dafür. Irgendwo zwischen den überwiegend negativen Bewertungen und den makellosen Zahlen liegt für Schweden wohl so etwas wie die “Wahrheit”. Fakt ist, dass sie gegen England über sich hinaus wachsen müssen. Genauso ist klar, dass ihnen das absolut zuzutrauen ist.

Ausblick auf den EM-Tag

Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten Tagen geschrieben habe, dass ich auf etwas gespannt bin. Aber es ist ja auch unfassbar spannend. Und heute bin ich gespannt, auf beide Teams. Bei den Niederländerinnen ist die Ausgangsposition recht klar: Eine holprige Gruppenphase soll aus den Beinen und Köpfen geschüttelt werden. Auch die Ausfälle und Rückschläge müssen nun in den Hintergrund rücken.

Es wird darum gehen, den eigenen Stärken zu vertrauen und Frankreich auf Augenhöhe zu begegnen. Dafür muss sich Oranje ordentlich strecken. Die Favoritinnenrolle liegt klar bei Les Bleues, auch wenn Trainerin Corinne Diacre das anders sieht. Sie nutzte das mediale Zweifeln daran, dass Frankreich ein Viertelfinale gewinnen könne, für Understatement.

Abseits aller Psychospielchen ist die Rollenverteilung aber eindeutig: Frankreich wird das Tempo und den Rhythmus vorgeben. In meiner Kurzvorschau auf alle Viertelfinals lest ihr mehr dazu.

Weitere Beobachtungen

  • Als ich neulich etwas über die gestiegene Qualität der Torhüterinnen geschrieben habe, hatte ich mit keiner Silbe Nicky Evrard erwähnt. Spätestens gegen Schweden hat sie mich daran erinnert, was für ein Fehler das war. Und ihre Leistung ist nochmal beeindruckender als die einiger Kolleginnen. Denn sie ist eine semi-professionelle Spielerin, die nebenher Hüpfburgen vermietet. Im Rasenfunk wird zu Recht nochmal darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, auf diese strukturellen Probleme immer wieder aufmerksam zu machen. Unter diesen Umständen eine Weltklasse-Leistung der Belgierin.
  • Nathalie Björn hat mit sechs herausgespielten Chancen und sieben eigenen Abschlüssen eine starke Leistung für Schweden gezeigt. Sie war sehr aktiv, hat als eine der wenigen im schwedischen Team auch mal für Überraschungen gesorgt und wird in den kommenden Spielen mit der erfahrenen Caroline Seger um den Startelfplatz konkurrieren.
  • Peter Gerhardsson hat nur einmal gewechselt und das sehr spät. Das hat mich sehr überrascht. Dass er sich Wechsel für die Verlängerung aufhebt, ist nachvollziehbar, aber gerade gegen Ende hätte ich doch erwartet, dass er nochmal versucht, entscheidenden Impulse von außen zu geben.
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Hör- und Leseempfehlungen

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Bild: © Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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