EM-Notizen, Tag 15: Vorschau auf das Viertelfinale – Erwartungen und Prognosen

Veröffentlicht von Justin Kraft am

An Tag 15 der Europameisterschaft in England beginnt das Viertelfinale. Ich blicke in meiner heutigen EM-Notiz kurz und knackig auf alle vier Spiele – und gebe eine Prognose ab.

Es ist immer wieder bemerkenswert: 24 Spiele sind absolviert, nur noch sieben stehen auf dem Programm. Das bedeutet, dass fast drei Viertel der Europameisterschaft hinter uns liegen. Und trotzdem geht das Turnier jetzt erst richtig los.

Das Vorspiel ist vorbei, jetzt geht es zur Sache – hoffentlich. Denn von einigen der acht verbliebenen Nationen erwarte ich mir mehr Mut. Ich will sehen, dass die Niederlande, Schweden oder auch Belgien die Visiere öffnen. Ich will Intensität und Offensivfußball sehen.

Und ich traue das allen acht Teams zu. Die Vorfreude auf dieses Viertelfinale ist riesig. Ich bin gespannt, ob wir den einen oder anderen Favoritinnensturz erleben – und ob hier und da vielleicht sicher geglaubte Halbfinalistinnen ins Straucheln geraten. Die Karten sind in der K.-o.-Phase neu gemischt.

Newsletter

Ich sende keinen Spam! Erfahren Sie mehr in meiner Datenschutzerklärung.

Viertelfinale 1: England gegen Spanien

Wie ich in einer meiner letzten EM-Notizen geschrieben habe, sehe ich einige Anhaltspunkte dafür, dass England gegen Spanien erstmals so richtig ins Schwitzen gelangen könnte. Dafür müssen sich die Spanierinnen aber im Angriffsdrittel steigern. Da geht es nicht nur um Abschlüsse, sondern auch um Bewegungsabläufe.

Gegen Deutschland gelang es ihnen noch recht gut, eine gut organisierte Defensive zu knacken. Im letzten Gruppenspiel gegen Dänemark fiel es ihnen deutlich schwerer. England wird offensiver als die beiden agieren. Sarina Wiegman hat den Three Lionesses niedländische Fußballkultur eingehaucht. Die Gastgeberinnen wollen den Ball selbst haben und über Spielkontrolle das Tempo diktieren.

Aber wird ihnen das gegen Spanien gelingen, die bereits seit vielen Jahren zusammen spielen und ihre Philosophie verfolgen? Spaniens Ballbesitz dürfte unangefochten der bestorganisierte des Turniers sein. Deshalb erwarte ich auch mehr Ballzirkulationen auf spanischer Seite. Aber England wird versuchen, sich nicht hinten reindrücken zu lassen und selbst aktiv zu bleiben. Selbstverständlich werden offensive Umschaltsituationen wichtig sein für die Engländerinnen, aber sie liegen unter Wiegman nicht im Fokus.

Während es sich Dänemark und Deutschland in der recht tiefen Haltung irgendwann “bequem” gemacht haben, erwarte ich die Engländerinnen druckvoller und höher, vor allem aber mutig in Ballbesitz. Ich hatte es bereits geschrieben und ich schreibe es wieder: Beide Teams haben das Potenzial, sich gegenseitig gnadenlos die Schwächen aufzuzeigen. Beide Teams sind sich in ihren Anlagen ähnlicher, als viele denken. Und genau diese Konstellation löst bei mir pure Vorfreude aus.

Prognose: Ein knapper Sieg für England

Wer schafft es, das Mittelfeld zu kontrollieren? Hier mag Spanien Vorteile haben. Aber wer schafft es, sich offensiv die Räume für gute Abschlüsse zu erlaufen? Hier sehe ich England vorn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Engländerinnen dieses Duell so deutlich für sich entscheiden werden, wie es teilweise angenommen wird.

Spanien wird aktuell etwas belächelt, weil sie in der Offensive bisher keine Durchschlagskraft entwickelt haben. Auf der anderen Seite wird vergessen, dass sie vor der Niederlage gegen Deutschland 24 Spiele in Serie nicht verloren haben.

Und dennoch glaube ich, dass es knapp nicht reichen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass es nach 90 Minuten 0:0 oder 1:1 steht und England in der Verlängerung den einen oder anderen Konzentrationsfehler der Spanierinnen nutzt. Tipp: 2:1 für England.

EM 2022: Das Viertelfinale im Überblick

Team 1Team 2Tag, Uhrzeit (Übertragung)
EnglandSpanienMittwoch, 21.00 Uhr (ZDF)
DeutschlandÖsterreichDonnerstag, 21.00 Uhr (ARD)
SchwedenBelgienFreitag, 21.00 Uhr (ARD)
FrankreichNiederlandeSamstag, 21.00 Uhr (ZDF)
Alle Spiele werden zudem auch bei DAZN übertragen.

Viertelfinale 2: Deutschland gegen Österreich

Habe ich da vorhin etwas von Intensität geschrieben? Und gibt es zu diesem Wort vielleicht noch eine Steigerung? Wenn die Temperaturen dem keinen Strich durch die Rechnung machen, wird dieses Duell ein Pressingfestival. Österreich wird mindestens mal in der Anfangsphase schauen wollen, wie sattelfest Deutschland im Spielaufbau ist. Und Deutschland wird den Ball frei nach dem Motto “in Maschina we trust” zu Marina Hegering spielen und hoffen, dass sie wieder gute Lösungen findet.

Diese ersten Minuten werden den weiteren Spielverlauf prägen. Schafft es Österreich analog zum Auftaktspiel gegen England, Deutschland zu Fehlern zu zwingen und vielleicht sogar in Führung zu gehen, könnte das ein sehr unangenehmes Spiel für die DFB-Elf werden. Sarah Punitgam, Sarah Zadrazil, Laura Feiersinger – dieses Mittelfeldtrio ist sehr zweikampf- und pressingstark.

Lina Magull, Sara Däbritz und Lena Oberdorf werden hier die Ruhe bewahren und sich behaupten müssen. Bisher liefen die Spiele immer für Deutschland. Ein früher Rückstand gegen Dänemark wäre möglich gewesen, ein schneller Ausgleich der Spanierinnen ebenfalls. Wie geht das Team mit ersten Rückschlägen um? Österreich hat die Qualität, das deutsche Team dahingehend zu testen.

Andersherum muss die Elf von Martina Voss-Tecklenburg nichts fürchten. Auch sie werden früh stören, aggressiv in den Zweikämpfen sein und sich darum bemühen, das Spiel aus dem Ballbesitz heraus zu kontrollieren. Gelingt es ihnen, Österreich nach und nach in die eigene Hälfte zu drücken, sind sie schon mal einen guten Schritt näher am Halbfinale dran.

Prognose: Deutschland bleibt im Flow

Ich halte mich kurz: Aktuell habe ich bei allen Gefahren, die gegen Österreich lauern, keine Zweifel daran, dass Deutschland auch dieses Spiel selbstbewusst und dominant angehen wird. Das DFB-Team setzt sich mit 3:1 durch.

Viertelfinale 3: Schweden gegen Belgien

Auf dem Papier ist diese Paarung die klarste Nummer. Vor dem Turnier hatten einige Belgien als interessantes Team auf dem Zettel. Offensivstark, mutig, aggressiv – aber defensiv eben manchmal offen wie ein Scheunentor. Das war der Grund, weshalb ich in meiner EM-Prognose geschrieben habe, dass sie vermutlich “chancenlos” sein würden in Gruppe D.

Tja, waren sie nicht. Etwas Glück hat es dafür gebraucht, aber sie haben sich diese erste Teilnahme an der K.-o.-Phase einer Europameisterschaft verdient. Belgien ist stabiler geworden, hat es geschafft, das Offensivspiel etwas besser auszubalancieren. Gleichzeitig hat die Offensive etwas darunter gelitten. Dass die Belgierinnen nach drei Spielen nur drei Tore auf dem Konto haben würden, hatte wohl kaum jemand auf dem Schirm.

Es hatte aber auch kaum jemand auf dem Schirm, dass sie nur drei Gegentore kassiert haben würden. Und so bleiben sie auch gegen Schweden eine kleine Wundertüte. Von einer deutlichen Niederlage bis hin zum großen Überraschungscoup scheint mir alles möglich. Zumal ich Schweden selbst aktuell auch nicht einschätzen kann.

Die Schwedinnen haben ihre Aufgaben in der Gruppenphase mehr oder weniger souverän gelöst. Gerade aus dem Spiel heraus ist mir das aber noch zu wenig. Mit all ihrer Erfahrung und Abgezocktheit ist ihnen nach wie vor alles zuzutrauen. Die ganz großen Titelfavoritinnen sind sie aus meiner Sicht aber nicht mehr.

Prognose: Schweden setzt sich knapp durch

Zu unterschätzen ist allerdings nicht, dass Schweden eine sehr stabile Defensive hat. Gerade gegen England oder Spanien könnte das in einem möglichen Halbfinale den Unterschied machen – und da sehe ich Schweden ehrlicherweise.

Auch wenn ich damit Gefahr laufe, Belgien chronisch zu unterschätzen, so glaube ich nicht, dass ein derart erfahrenes Team wie Schweden über sie stolpern wird. Wobei abzuwarten ist, wie sich die Corona-Situation entwickelt. Bei den Schwedinnen sind mit Hanna Glas und Emma Kullberg aktuell zwei Spielerinnen betroffen. Ich rechne trotzdem mit einem knappen 2:1-Sieg für die Schwedinnen.

Viertelfinale 4: Frankreich gegen Niederlande

Und dann wird am Samstag noch die Frage geklärt, wer auf Deutschland (oder Österreich) trifft. Auf dem Papier ist das ein ähnlich hochklassiges und spannendes Duell wie England gegen Spanien. Aber auch in der Realität? Die Niederlande ist zuletzt einiges schuldig geblieben.

Das liegt an Ausfällen durch Corona und Verletzungen, es liegt aber auch an merkwürdigen taktischen Entscheidungen. Neben einer sehr verhaltenen und passiven Spielweise, die den Spielerinnen nicht zu liegen scheint, fand ich auch einige Positionswechsel seltsam. So agierte Wolfsburgs Dominique Janssen zwar nicht zum ersten Mal auf der linken Abwehrseite, doch dort kommt sie nicht so richtig in Tritt. Als sie innen verteidigen durfte, fand sie schon deutlich eher zu ihren Stärken im Defensiv- und Aufbauspiel.

Auch Jill Roord wurde in sehr unterschiedlichen taktischen Rollen eingesetzt, obwohl sie vor allem gegen Schweden zeigen konnte, wie wertvoll sie im Zentrum zwischen den Linien ist. Es ist kein gutes Zeichen, dass Mark Parsons so viel experimentiert und tüftelt. Gerade gegen Frankreich könnte das ein sehr böses Erwachen geben.

Für die Französinnen ist es die erste größere Herausforderung bei diesem Turnier. Auch wenn ich die Niederländerinnen nicht so stark einschätze wie andere Nationen, so könnte es für Frankreich jetzt erstmals schwerer werden, die spielerische Leichtigkeit auf den Platz zu bringen. Dafür muss Oranje aber endlich den Mut finden, sich gegen den Ball aggressiver zu präsentieren. Die Qualität haben sie – aber können sie es auch umsetzen?

Prognose: Französischer Spaziergang?

Ich fürchte: Nein. Für Frankreich wird es wieder eine deutliche Angelegenheit. Bei den Niederländerinnen liegt derzeit zu viel im Argen und deshalb können sie kaum etwas gegen die Offensivpower der Französinnen unternehmen. Zwar ist Vivianne Miedema ins Training zurückgekehrt, aber Lieke Martens fällt dafür mit einer Verletzung aus. Im Viertelfinale ist Schluss. Endstand: 3:1.

Hör- und Leseempfehlungen

Hier geht es zur letzten EM-Notiz – ein Zwischenfazit nach der Gruppenphase.

Bild: © Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Avatar placeholder

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert