EM-Notizen, Tag 3: Norwegen gegen Nordirland – viel mehr als ein Fußballspiel

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Nordirland schreibt bei dieser Europameisterschaft die erste große “Feel-Good-Story”. Zwar verlieren sie mit 1:4 gegen Norwegen, doch ausgerechnet Julie Nelson erzielt das erste Tor der nordirischen Turniergeschichte im Fußball der Frauen. Warum sie viele Frauen im Sport und in der Gesellschaft repräsentiert.

Als Norwegen und Nordirland aus der Kabine kamen, um die zweite Halbzeit zu beginnen, war allen klar, wer dieses Spiel gewinnen würde. Norwegen hatte sich im ersten Durchgang eine komfortable 3:0-Führung erspielt. Es war absehbar, dass Nordirland dem Druck der Favoritinnen nicht lange Stand halten würde.

Zu groß waren die Unterschiede. Zu unterschiedlich waren aber auch die Voraussetzungen. Und doch hatte diese Partie noch eine Wendung für uns parat, die nicht weniger als historisch war: Julie Nelson erzielte mit 37 Jahren in ihrem 126. Länderspiel das erste nordirische Tor bei einem großen Turnier überhaupt (bezogen auf den Fußball der Frauen).

Dass Nordirland an diesem Turnier teilnimmt, ist eigentlich schon eine Sensation. Streicht das “eigentlich”. Es ist deshalb eine Sensation, weil ein beachtlicher Teil des Kaders aus Amateurspielerinnen besteht. Teilweise arbeiten diese “in Supermärkten oder Krankenhäusern”, wie Nordirlands Trainer Kenny Shiels nach der Qualifikation für dieses Turnier erklärte.

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Nordirland: Julie Nelson repräsentiert viele Frauen

Nelsons Karriere steht stellvertretend für den Kampf, den viele Frauen im Fußball auf sehr verschiedenen Ebenen tagtäglich kämpfen müssen – und auch über den Fußball hinaus. Der Kampf um Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit und Wertschätzung – finanziell, aber genauso emotional und durch die Begegnung auf Augenhöhe.

“Als ich aufwuchs, war mir gar nicht klar, dass es Mädchen gibt, die Fußball spielen”, sagte sie der UEFA: Und es war mir erst recht nicht klar, dass es ein nordirisches Team gibt. Es gab keine Sichtbarkeit für den Fußball.” Überhaupt kannte Nelson nur eine weibliche Athletin in ihrer Kindheit und das war Steffi Graf.

Dass es keine weiblichen Vorbilder für sie gab, “war eine anfängliche Barriere”. Sie habe im Laufe der Jahre viel geopfert, “um für Nordirland zu spielen – ich habe viel Zeit geopfert, Freunde und Familie vernachlässigt, mir frei oder Urlaub genommen, um mein Land zu vertreten.”

“Man hetzt von der Arbeit nach Hause und versucht, noch etwas zu essen, bevor man zum Training geht”, erklärt Nelson ihren Alltag: “Es ist eine enorme zeitliche Belastung, aber wir lieben es und deshalb machen wir es.”

Julie Nelson: Sie bewegt und packt an

Nelson war die erste nordirische Frau, die die Marke von 100 Länderspielen knackte. Für ihre Verdienste im Fußball der Frauen erhielt sie 2021 die British Empire Medal (BEM) von der Queen. Die Innenverteidigerin arbeitet aktuell als Assistentin an der Ulster University in Nordirland. Zwischen 2016 und 2019 war sie im irischen Fußballverband (IFA) als Botschafterin tätig.

In einem Programm der IFA, das den Fußball der Mädchen und Frauen fördern soll, engagiert sie sich zudem als Trainerin. Es sei für sie fantastisch zu sehen, wie hoch das Niveau der jungen Generation ist. Nelson ist eine Legende des Fußballs der Frauen. Sie packt an, bewegt und entwickelt weiter, um jungen Menschen das zu bieten, was sie selbst nicht hatte.

“Es kann keine einmalige Sache für den Fußball der Frauen in Nordirland sein, sich für die EM 2022 zu qualifizieren”, sagt sie über ihre Ziele mit dem Verband. Es sei fantastisch, wie viele junge Mädchen sich für das Nationalteam begeistern. “Für uns erfahrene Spielerinnen im Team ist es unwirklich, das zu hören”, so Nelson.

Nordirland und Julie Nelson zeigen, was Fußball bedeutet

Die 1:4-Niederlage gegen Norwegen ist deshalb als emotionaler Sieg zu werten. Auf der Tribüne war es den nordirischen Fans nicht so wichtig, wie hoch die Niederlage ausfällt. Immer wieder feuerten sie ihr Team lautstark an. Sie haben ein Team gesehen, das zu begeistern wusste. Nordirland hatte Lust auf Fußball und hat Norwegen das Leben in sehr vielen Phasen erschwert.

Selbstverständlich gab es im Spielaufbau die eine oder andere Situation, wo der lange Ball sicherer gewesen wäre. Aber Nordirland blieb seinen Prinzipien treu, versuchte immer wieder, sich spielerisch zu befreien. So kamen sie zu einigen vielversprechenden Angriffen, wenn die erste norwegische Linie mal überspielt werden konnte.

Der Moment, als Julie Nelson den Ball mit dem Kopf über die Linie drückt, wird in die Geschichte des nordirischen Fußballs eingehen. Dass ausgerechnet sie es war, die dieses historische Tor erzielte, fällt in die Kategorie der puren Fußballromantik. Auf den Tribünen gab es einige junge Menschen in nordirischen Farben. Vielleicht ist Nelson das Vorbild einiger dieser Jungen und Mädchen.

Und vielleicht können vor allem die Mädchen dann später mal sagen, dass sie mehr weibliche Vorbilder in ihrer Kindheit hatten als Nelson selbst. Frauen wie Nelson tragen dazu bei, dass sie sich im Spitzensport und in der Gesellschaft repräsentiert sehen. Das ist viel mehr wert als jedes Ergebnis. Und das ist ein Teil der Bedeutung, die der Fußball der Frauen hat.

Weitere Beobachtungen

  • Dass das Spiel selbst heute etwas in den Hintergrund gerückt ist, hat auch den Grund, dass es noch genügend Zeit geben wird, sich mit der fußballerischen Leistung Norwegens (und auch Nordirlands) zu beschäftigen. Dennoch fiel natürlich auf, wie offensivstark die Norwegerinnen sind. Es war beeindruckend, dass sie nicht nur ihre Positionen sehr häufig gewechselt haben, sondern es gleichzeitig schafften, keine wichtigen Räume offen zu lassen. Technisch und taktisch war das schon ein sehr hohes Niveau. Gleichwohl, auch deshalb halte ich mich heute etwas zurück, war das noch nicht der Gradmesser. Wie gut Norwegen wirklich ist, wird man gegen Österreich sehen.
  • Caroline Graham Hansen for Ballon d’Or. Gibt es Widerreden? Nein? Gut so. Man hatte immer das Gefühl, dass sie trotz herausragender Leistungen im Schatten von Ada Hegerberg steht. Dabei ist sie nicht weniger Weltklasse als ihre Kollegin. Erst seit dem Wechsel zum FC Barcelona und dem entstandenen Hype um dieses Team bekommt sie mehr Aufmerksamkeit. Ihre Dribblings, ihre Pässe, aber auch ihre Abschlüsse sind hervorragend. Sie vereint Tempo und technische Sauberkeit – und begeistert damit sehr viele Menschen. Sie hat nicht so herausragende Quoten wie Alexia Putellas, trotzdem ist sie in fast jedem Spiel an mindestens einem Tor beteiligt. Sie macht den Unterschied.
  • Norwegen wusste offensiv zu begeistern. Gleichzeitig hat Nordirland mit der frechen Spielweise oft genug aufgezeigt, dass die Defensive (noch) nicht so stabil ist. Immer wieder taten sich große Löcher hinter der vorderen Pressinglinie und auch in der Abwehr auf. Ein Team mit mehr technischer Qualität hätte wohl mehr als ein Tor erzielt.
  • Ich habe das Gefühl, dass das Thema Berichterstattung sich durch die gesamte EM ziehen wird. Es war ja absehbar, dass Spiele wie dieses nur im Stream laufen. Es war auch absehbar, dass es keine Vor- und Nachberichte geben wird. Trotzdem bin ich abermals enttäuscht davon, wie lieblos dieses Produkt präsentiert wird. Es fehlt der Mut dazu, etwas auszuprobieren. Ich hatte es gestern in den Leseempfehlungen geteilt: Drei Millionen Menschen schalteten zur Eröffnung bei der ARD ein. Ein ernsthaftes Interesse daran, diese Menschen an sich und den Sport zu binden, sieht anders aus. Die Behandlung ist viel zu stiefmütterlich. Geschichten wie jene von Julie Nelson müssen erzählt und geteilt werden. Die englische Presse hat da viel geliefert. Deutschland? Fehlanzeige. Eine so tolle Offensive wie die der Norwegerinnen gehört analysiert. So wird man aber erneut viele Chancen verpassen. Und das betrifft nicht nur die ARD, die gern als Bauernopfer herhalten muss.

Ausblick auf den EM-Tag

Heute startet Deutschland in das Turnier. Im Abendspiel geht es gegen die Vize-Europameisterinnen aus Dänemark. Es wird wohl ein enges Spiel auf Augenhöhe und viel wird davon abhängen, wer im Mittelfeld die Oberhand behalten kann. Unter anderem darüber habe ich mit Lena Cassel und Maik Nöcker im MML-Daily gesprochen.

Wer möchte, kann zudem meine Analyse des deutschen Teams für SPOX lesen. Hier entlang.

Und bei allem Fokus auf das DFB-Team: Um 18 Uhr spielt Spanien gegen Finnland. Nach dem Ausfall von Alexia Putellas wird es sehr interessant, ob die Spanierinnen genug Offensivkraft auf das Feld bekommen. Zumal Finnland nicht zu unterschätzen ist, wie Ihr in meiner Gruppenvorschau erfahren habt. Ich tippe dennoch auf eine deutliche Angelegenheit für die Spanierinnen.

Lese- und Hörempfehlungen zur EM

Hier geht es zum letzten Tagebucheintrag.

Bild: © Valerio Rosati | Dreamstime.com / bearbeitet mit Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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