EM-Notizen, Tag 4: Was kann Deutschland für das Spiel gegen Spanien lernen?

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Deutschland und Spanien starten mit je vier Toren in die Europameisterschaft in England. Am zweiten Spieltag spielen beide wahrscheinlich um den Gruppensieg. Was kann die DFB-Elf aus den ersten Spielen in Gruppe B lernen?

“Uns muss erstmal jemand schlagen”, sagte Martina Voss-Tecklenburg nach Abpfiff im Kreis mit dem gesamten Team. Gerade hatte Deutschland mit 4:0 gegen Dänemark gewonnen. Eine Ansage. Zumal die Däninnen zum erweiterten Kreis der Favoritinnen gehören. Im 18-Uhr-Spiel hatte zuvor auch Spanien seine Pflichtaufgabe gegen Finnland größtenteils souverän gelöst.

Mit 4:1 gewann das Team von Jorge Vilda, musste nach nur 49 Sekunden aber einen 0:1-Rückstand verkraften. Die coole Reaktion darauf unterstreicht dennoch, dass die Spanierinnen, obwohl Weltfußballerin Alexia Putellas mit einem Kreuzbandriss ausfällt, zu den Favoritinnen zählen.

Und jetzt erwartet uns alle schon am 2. Spieltag ein Duell, das so auch gut und gerne in der K.-o.-Phase stattfinden könnte. Endspielcharakter hat das Duell für beide nicht, aber es geht um nicht weniger als den Gruppensieg. In meiner heutigen EM-Notiz möchte ich zunächst auf je eine taktische Besonderheit bei Spanien und Deutschland eingehen, von der ich glaube, dass sie im direkten Duell entscheidend werden kann.

Newsletter

Ich sende keinen Spam! Erfahren Sie mehr in meiner Datenschutzerklärung.

Spaniens Flügelspiel kann Deutschland wehtun

Spanien hat gegen Finnland bewiesen, dass sie variabel sind. Putellas fällt aus? Zumindest im Spielaufbau kein Problem. Patricia Guijarro wird von den Gegnerinnen aus dem Spiel genommen? Dann übernehmen die Innenverteidigerinnen halt die Verantwortung. Spanien ist schwer zu pressen und deshalb ist ein offensichtlicher Schlüssel für Deutschland, dass sie mit ihrem aggressiven und teils hohen Pressing nicht in das offene Messer laufen.

Gleichzeitig kann es keine Lösung sein, sich hinten am eigenen Strafraum zu verschanzen. Die Balance wird vielleicht entscheidend sein. Doch ab von diesem recht offensichtlichen Punkt möchte ich das Flügelspiel der Spanierinnen hervorheben.

Anhand dieser Szene lässt sich das anschaulicher erklären. Mapi Leon dribbelt in die gegnerische Hälfte und hat nun zwei Optionen. Die Offensichtliche: Im grünen Bereich hat Spanien gut überladen. Dass Finnland den Flügel nicht schließen kann, liegt daran, dass die Spanierinnen das Spiel zuvor verlagert haben. Das ist ihr Spiel: Immer wieder die Seite wechseln und im richtigen Augenblick den offenen Raum vor sich bespielen.

Die zweite Option ist ein Diagonalball. Denn ballfern schiebt Finnland auch durch die Bewegungen Spaniens sehr kompakt auf die andere Seite. Leon und auch Paredes haben die Qualität, diese Bälle präzise zu spielen.

Durch die Überladungen des Flügels bringen sie vor allem die gegnerische Außenverteidigerin häufig in Entscheidungszwang. Auf der rechten Seite gelang es Spanien mehrfach, Linksverteidigerin Emma Koivisto aus ihrer Position zu ziehen und dann den Raum dahinter zu belaufen und zu bespielen.

Deutschland: Potenzielle Schwachstelle außen?

Dieser Aspekt des spanischen Spiels ist deshalb so interessant, weil Deutschland gegen Dänemark zumindest im Ansatz Möglichkeiten aufgezeigt hat, wie man sie knacken kann. Szenenbeispiel:

Hier hat Dänemark mit einem Freistoß die Chance, mal in Ruhe das Spiel aufbauen. Deutschland steht aber nicht optimal organisiert. In der Verteidigungslinie sind Sara Däbritz und Lena Oberdorf tief positioniert, weil sie mit dem langen Ball rechnen. Es gibt aber keinen Grund dafür, drei dänische Spielerinnen mit sechs Verteidigerinnen abzudecken. Das Zentrum kompakt zu halten, ist zwar die Marschroute, aber dann muss auch der grüne Zwischenraum geschlossen werden.

Spanien könnte eine solche Situation auf zwei Arten nutzen: Über den grünen Raum Fahrt aufnehmen, oder das tun, was Dänemark anschließend tat: Auf den rechten Flügel verlagern. Felicitas Rauch verlor das Eins-gegen-eins ohne Unterstützung und Deutschland hatte anschließend Glück:

Die Flanke kam nicht optimal, durch das Einlaufen von Linksaußen Sofie Svava gab es aber eine Überzahl am langen Pfosten.

Auch auf dem rechten Flügel gab es einige Situationen, in denen Giulia Gwinn ein Eins-gegen-eins oder gar Eins-gegen-zwei lösen musste. Die Rechtsverteidigerin verteidigte klug und aggressiv nach vorn, erstickte somit viele Angriffe noch bevor es hinter ihr gefährlich werden konnte. Spanien hat aber eine höhere Qualität. Rückt Gwinn hier einmal zu viel heraus, könnte sich viel Platz ergeben.

Deutschland: Hoch und weit bringt Spaniens Unsicherheit?

Deutschlands Mittel gegen Dänemark war auf dem Papier simpel, in der Ausführung aber durchaus komplex. Sie zogen ihre Gegnerinnen vertikal auseinander und spielten dann anspruchsvolle Chipbälle in den nun geöffneten Zwischenlinienraum oder auf die Flügel, wo Klara Bühl links und Svenja Huth rechts mehrfach in vielversprechende Laufduelle kamen.

Entweder kamen die langen Bälle an oder Deutschland eroberte sie durch starkes Nachrücken und hohen Pressingdruck zurück. Ein Beispiel:

Im Mittelfeld zieht Magull ihre Gegenspielerin etwas heraus. Rechts macht Däbritz das Spiel breit, weshalb die halblinke Innenverteidigerin sich nicht traut, den Lauf von Huth mitzugehen, die sich im nun größeren Zwischenraum anbietet. Gwinn spielt einen Chipball, den Huth sehr gut kontrolliert. Die Wolfsburgerin dreht auf und hat jetzt zwei Optionen: Däbritz auf dem Flügel und der Ball in die Tiefe zu Schüller.

Sie wählt den Pass zu Schüller, die anschließend Däbritz schicken möchte. Der Pass missglückt aber. Trotzdem: Genau diese mutigen Chipbälle sowie auch lange Bälle auf die schnellen Außenspielerinnen könnten gegen Spanien ein probates Mittel sein.

Spanien: Restverteidigung auch gegen Deutschland stabil?

Mit Finnland hatten die Spanierinnen keine allzu großen Probleme. Das lag auch am technischen Niveauunterschied. Denn im Ansatz gab es durchaus einige Szenen, in denen Finnland die Möglichkeit hatte, Spanien ins Schwitzen zu bringen. Klar, das Paradebeispiel ist wohl das 1:0 nach nur 49 Sekunden:

Kann man es darauf schieben, dass Spanien einfach einen schlechten Tag hatte? Vielleicht. Aber auch im weiteren Spielverlauf gab es Ansätze zu beobachten, in denen Spanien sehr abhängig von der individuellen Klasse der Restverteidigung war. Der Lauf von Sanni Franssi zieht Spaniens Mapi Leon etwas aus der Verteidigung und Torschützin Linda Sallström startet in die Tiefe.

Für Deutschland könnte beispielsweise Huth versuchen, eine Verteidigerin aus der Kette zu ziehen und Schüller startet. Oder Magull übernimmt das ziehen, während Bühl links oder Huth rechts mit Tempo hinter die Kette gehen.

Auch weil die Spanierinnen ihre Außenverteidigerinnen in Ballbesitz sehr hoch schieben, könnten die präzisen (halb-)langen Bälle, die Marina Hegering und Co. gegen Dänemark gespielt haben, wieder eine echte Waffe werden.

Ausblick auf den EM-Tag

Heute geht es direkt weiter mit Duellen auf Augenhöhe – oder zumindest mal annähernd auf Augenhöhe. Portugal und die Schweiz spielen vermutlich schon darum, wer die größte Außenseiterinnenchance auf eine Überraschung hat. Und im Abendspiel treffen die Europameisterinnen auf die Vize-Olympiasiegerinnen. Kann Schweden seine Form bestätigen? Und können die Niederländerinnen beweisen, dass die jüngsten Leistungen nur Ausrutscher waren? Es wird ein weiterer spannender EM-Tag. Schaut gern nochmal in meine Gruppenvorschau.

Weitere Beobachtungen

  • Mapi Leon und Irene Paredes sind für mich die Matchwinner für Spanien. Paredes (82/87 Pässe kamen an, 5/6 langen Bällen kamen an) sorgte mit ihren Diagonalbällen für viel Gefahr. Mapi Leon (102/113 Pässen, 7/14 Flanken kamen an) schob offensiver nach vorn, dribbelte immer wieder an und kümmerte sich vorrangig um Kurzpässe und Flanken aus dem Halbfeld. Wie beim 2:1-Führungstreffer von Aitana Bonmati gesehen. Eine so aufbaustarke Abwehr ist kaum zu pressen. Läuft Deutschland vielleicht auch aus diesem Grund ein paar Meter tiefer gegen Spanien an?
  • Marina Hegering. That’s it. Mehr muss ich eigentlich gar nicht schreiben. Aber was soll’s: Die 32-Jährige hat in den letzten beiden Jahren kaum Spiele auf hohem Niveau gemacht, sie fiel im Verlauf ihrer Karriere sogar mal so lange aus, dass sie innerhalb von sechs Jahren kaum Fußball spielen konnte. Im Vorfeld der EM war ihr selbst noch gar nicht klar, wo sie nach den langen Ausfallzeiten steht. Und dann absolviert sie so ein Spiel? Chapeau. Absolute Weltklasse. Auch wenn von ihren 12 langen Bällen “nur” vier ankamen, so waren diese meist genau in die richtigen Zonen gespielt, um anschließend optimal ins Pressing zu kommen. Im Spielaufbau war sie mit Kurz- und Langpässen eine Waffe. Sie könnte ein wichtiger Schlüssel gegen Spanien sein.
  • Klara Bühl hat sich ihre Bestform wohl für Spanien aufgehoben. Gegen Dänemark gelang ihr fast nichts. Passquote von 69 %, kein einziges der fünf Dribblings erfolgreich und einfach glücklos in ihren Aktionen.
  • Standards, Standards, Standards! Die ruhenden Bälle sind im Fußball wichtig und auch bei dieser EM werden sie wohl eine große Rolle spielen. Spanien erzielte drei Tore nach Standards, Deutschland zwei. Es war auffällig, dass die Deutschen dabei den Fünfmeterraum mit meist vier oder fünf Spielerinnen besetzt haben, um der Torhüterinnen keinen Anlauf zu geben. Bei Schüllers 2:0 profitierten sie davon. Die Torschützin sagte anschließend, dass man bewusst alle Ecken direkt vor das Tor geschlagen habe. Auch das Tor von Lena Lattwein war eine offensichtlich einstudierte Variante. Lattwein bewegte sich so weit nach außen, dass die Gegenspielerin unsicher war, ob sie mitgehen muss. Durch den Ball ins Zentrum verlor sie die Deutsche aus den Augen und die startete wiederum in den Strafraum, um den Ableger von Oberdorf zu verwerten.

Lese- und Hörempfehlungen

Hier geht es zum vorherigen Tagebucheintrag, wo es um Nordirland und Julie Nelson geht.

Bild: © Valerio Rosati | Dreamstime.com / bearbeitet mit Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

0 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Avatar placeholder

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert