Jonas Vingegaard: Menschlicher als manche Kritik an ihm

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Ein „Triumph der Effizienz, des Teamworks, der Vorbereitung und Konstanz“ sei Jonas Vingegaards zweiter Sieg bei der Tour de France gewesen, schreibt Jeremy Whittle beim Guardian: „Leider fehlte es an den Charakteristiken, die moderner Radsport am meisten benötigt: Wärme, Charme und Menschlichkeit.“

Whittle ist damit nicht allein. Medial gab es einige Artikel, die Vingegaard vorwarfen, nicht charismatisch genug zu sein. Auch in den sozialen Netzwerken wird der Kontrast zwischen dem extrovertierten Tadej Pogacar und Vingegaard häufig genutzt, um den Dänen bloßzustellen. Ich selbst habe hier und da auch dazu tendiert, ihm das zumindest negativ auszulegen.

Das ist nicht nur unfair, es ist bisweilen einfach falsch in der Argumentation. Vingegaard vorzuwerfen, er zeige keine Wärme oder Menschlichkeit, ist absurd. Er hat sowohl bei der letzten Tour als auch bei der diesjährigen oft genug unter Beweis gestellt, dass er ein fairer Sportsmann ist. 

Im vergangenen Jahr wartete er auf den gestürzten Pogacar, der sich bei ihm bedankte. Unabhängig davon, ob es überhaupt sinnvoll gewesen wäre, weiterzufahren, ist das eine nette Geste. Auch bei dieser Tour ließ er das Tempo reduzieren, als der Slowene stürzte. Bei jeder Zielankunft führt sein erster Weg zu seiner Familie.

Hinzu kamen gleich mehrere Interviews, in denen er fast schon schüchtern erklärte, dass Pogacar der beste Fahrer der Welt sei. Kompletter als er selbst und er sei froh, dass er die Tour jetzt überhaupt zweimal gewinnen konnte.

Seit wann ist es nicht mehr menschlich, introvertiert zu sein? Seit wann ist es nicht mehr menschlich, schüchtern zu sein? Vingegaard liefert weniger Spektakel als sein großer Konkurrent, er liefert weniger Bilder. Vermutlich finden ihn viele deshalb uninteressant. Es ist nachvollziehbar, das weniger unterhaltsam zu finden.

Wenn man daraufhin aber negative Rückschlüsse auf seinen Charakter zieht, sagt das mehr über die Gesellschaft aus als über Vingegaard. Denn Introvertierte haben es oft schwerer als Extrovertierte. Nun muss sich jemand wie Vingegaard mit diesen Sorgen als einer der erfolgreichsten Radsportler der letzten Jahre nicht groß herumschlagen. Aber viele andere Introvertierte müssen das und sie können mit Menschen wie Vingegaard möglicherweise identifizieren. Es ist schade, dass offenbar nicht beides koexistieren kann: Typen wie Pogacar sollten ebenso für sich betrachtet werden wie die Vingegaards dieser Welt.

Sicher gibt es auch berechtigte Kritik an Vingegaards Fahrstil. Der ist nun mal oft wenig unterhaltsam. Mit Blick auf seine Persönlichkeit verwundert es aber kaum, dass er zurückhaltend und defensiv fährt. Es scheint manchmal fast so, als würde er sich selbst noch unterschätzen.

Warum attackiert er nicht? Warum so pragmatisch? Warum so paranoid trotz sieben Minuten Vorsprung? Andererseits kann man ihm doch gerade mit Blick auf diese offensichtliche innerliche Sorge, etwas falsch zu machen, nicht vorwerfen, er sei nicht menschlich. 

Zumal er ganz offensichtlich an sich arbeitet. Vingegaard sei selbstbewusster, sagte er mit einem leichten Grinsen, als er gefragt wurde, in welchen Bereichen er sich im Vergleich zum letzten Jahr verändert habe.

Seine Leistungen stehen dazu fast schon im Kontrast. Denn die wirken tatsächlich unmenschlich, sorgen hier und da für Zweifel und Kritik. Zweifel, für die er Verständnis äußert – und für die wohl jede*r Verständnis hat. Doch mehr als Zweifel sind es derzeit nicht.

Manchmal wirkt es so, als würden einige Beobachter*innen etwas konstruieren wollen. Das betrifft Vingegaard ebenso wie Pogacar, dem in der Vergangenheit ebenfalls charakterliche Vorwürfe gemacht wurden, bis sie nicht mehr haltbar waren. Letzterer hat den Vorteil, extrovertiert zu sein.

Die charakterlichen Unterschiede sind eine der wenigen Möglichkeiten, um für etwas Reibung in der ansonsten sehr harmonischen Rivalität zu erzeugen. Einige scheinen das zu brauchen. Es ist ein Relikt des männerdominierten Verständnis vom Spitzensport. Ein toxisches Relikt der Reibung, der Zwietracht und der falschen Annahme, dass Harmonie langweilig sei.

Dabei präsentieren Pogacar und Vingegaard seit mittlerweile Jahren, warum Radsport besonders ist, besonders sein kann. Er hat die Kraft, so inklusiv und respektvoll zu sein wie wenige andere Sportarten. Auch bei den Fans zeigt sich das. Ausschreitungen, Hass und Häme gibt es dort nur selten. Höchstens mal ein paar zu extrovertierte Menschen, die für den einen oder anderen Unfall sorgen. Ansonsten aber haben am Straßenrand und auf den Straßen alle ihren Platz.

Nutzt der Radsport diese Kraft der Inklusion immer und auf allen Ebenen? Sicher nicht. Aber Pogacar und Vingegaard leben vor, was Respekt unter Rivalen bedeutet. Was Menschlichkeit und Wärme bedeuten. Und ganz offen gefragt: Was zeigt mehr Charisma, als ein schüchterner Typ, der im Konzert der Lauten sein Ding durchzieht und am Ende zweimal souverän die Tour de France gewinnt?

Introvertierte Menschen kämpfen häufig unsichtbare Kämpfe. Gegen sich selbst, gegen äußere Kritik – Vingegaard trotzt all dem auf beeindruckende Art und Weise. Und bekommt dafür mehr Liebe von den Fans, als mancherorts wahrgenommen und vermutet wird.


Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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