EM-Notizen, T -17: EM der Frauen – Vorschau Gruppe A

Veröffentlicht von Justin Kraft am

Am 6. Juli beginnt die EM der Frauen – und viele werden sich fragen: Wer sind diese 16 Teams eigentlich, die um den Titel spielen? Bis zum Turnierstart möchte ich alle Gruppen vorstellen. Beginnend mit Gruppe A rund um die Gastgeberinnen, Nordirland, Norwegen und Österreich.

Angelehnt an das hervorragende Tagebuch von Tobias Escher zur Europameisterschaft der Männer im letzten Jahr, werde ich versuchen, die EM der Frauen in England hier auf meiner Website in einer Art Tagebuch zu begleiten. Ich werde für verschiedene Medien rund um das Turnier und in anderweitigen sportalltäglichen Themen tätig sein, weshalb es von mir kein Versprechen gibt, wie regelmäßig und ausführlich ich zu Beiträgen komme.

Grundsätzlich gilt aber mal Eines: Ich habe richtig Bock auf dieses Turnier! Ich habe lange nicht mehr so eine Lust auf Fußball verspürt. Diese EM in England macht etwas mit mir und löst in mir die Motivation aus, zusätzlich zu dem, was ich beruflich mache, dieses Format zu starten und hoffentlich auch sehr regelmäßig weiterzuführen.

In meinen ersten EM-Notizen werde ich Euch an meiner ganz persönlichen Vorbereitung auf das Turnier teilhaben lassen und alle 16 teilnehmenden Nationen in dem Maß vorstellen, wie es mir eben durch Sichtung von Videomaterial und Befragung von Kontakten möglich ist. Heute starten wir mit Gruppe A: England, Nordirland, Norwegen, Österreich.

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England: Gastgeberinnen und Favoritinnen?

Dass der Fußball der Frauen in den vergangenen Jahren einen nahezu kometenhaften Aufstieg erlebte, hat auch mit England zu tun. Die Women’s Super League der FA ist aktuell die angesehenste Liga Europas und hat sich auch weltweit viel Anerkennung erarbeitet. Die Engländer:innen treiben den Fußball der Frauen voran, investieren viel Geld in Spielerinnen und Strukturen. Auch wenn längst nicht alles perfekt ist, so ist vieles vorbildlich.

Die anstehende EM der Frauen ist für alle Nationen ein Großereignis. Vielleicht das größte und wichtigste in der jüngeren Geschichte. Für England ist es gleich nochmal doppelt wichtig. Bei der letzten EM in den Niederlanden scheiterten sie im Halbfinale deutlich an den Gastgeberinnen. Ein großer Titel war ihnen bisher nicht vergönnt.

Für das Team bedeutet das zusätzlichen Druck, auch wenn Führungsspielerin Millie Bright das etwas anders sieht, wie sie dem Guardian verriet: “Für uns bedeutet das nicht mehr Druck, es ist einfach Teil des Spiels und wir haben damit tagein tagaus umzugehen. Es wird Kritik geben, jeden einzelnen Tag.”

Insbesondere als Frau sei das im Fußball Alltag. Sie fühle sich gut vorbereitet auf das Turnier – und die Möglichkeit, Geschichte zu schreiben. Dennoch sind die Erwartungen riesig.

Trainerin und Taktik: Sarina Wiegman

Eine aus dem Team weiß bereits, wie es sich anfühlt und wie es geht. Sarina Wiegman hat 2017 ihr Heimatland daheim zum EM-Titel geführt. Mit erfrischendem Offensivfußball gelang es Oranje, erstmals Europameisterinnen zu werden. Seit 2021 ist sie Trainerin von England.

Ihre Philosophie: Angreifen, aber mit Köpfchen. Die Engländerinnen ziehen ein recht enges Positionsspiel auf und versuchen, die Passwege auf dem gesamten Feld kurz zu halten.

Die Grundidee ist recht simpel: Viele Spielerinnen in Ballnähe erlauben eine gute Zwischenraumbesetzung im Zentrum. Zumal England über sehr dynamische und flexibel einsetzbare Spielerinnen verfügt, was die Trainerin zu nutzen weiß. Durch viele Positionswechsel und gegenläufige Bewegungen ist es schwer, Druck auf den Ball auszuüben, wenn dieser erstmal durch die Reihen der Engländerinnen läuft.

Mit Lauren Hemp und Georgia Stanway haben sie zwei Offensivspielerinnen, die auf dem Platz viel rochieren und für Unruhe sorgen. Beide haben enorm viel Zug zum Tor und sorgen mit Pässen oder Einzelaktionen für Tiefe im Spiel. Auch die etwas erfahrenere Beth Mead vom FC Arsenal ist schwer auszurechnen, weil sie in verschiedenen Positionen auftaucht und nahezu immer etwas mit dem Ball anfangen kann. Ihre Dribblings und ihre Kombinationsstärke sind ein wichtiger Faktor für England.

Ein weiterer Vorteil der kurzen Abstände liegt ebenfalls auf der Hand: Verliert das Team den Ball, sind die Anlaufwege kurz. Im modernen Fußball setzen viele Trainer:innen deshalb auf eine enge Positionierung. Die Flügel sind in manchen Situationen nur teilweise oder einfach besetzt, hin und wieder wird das Spiel auch erst sehr spät breit gemacht.

Das geschieht, indem sich eine Flügelspielerin von innen nach außen fallen lässt. Die Dynamik in dieser Situation entsteht durch anschließende Tiefenläufe einer Angreiferin oder Mittelfeldspielerin. Geht die gegnerische Außenverteidigerin den Weg mit, öffnet sich womöglich ein Raum. Geht sie nicht mit, kann England verlagern. Der Regelfall ist aber, dass mindestens zwei Spielerinnen das gegnerische Team durch eine etwas breitere Positionierung auseinander ziehen. Die Beispiele unterstreichen die taktische Flexibilität.

England bei der EM eines der spannendsten Teams

Probleme gibt es hin und wieder in der Abstimmung und im Auffüllen der Positionen, wenn eine Spielerin ihre Position verlässt. Verlieren die Engländerinnen den Ball in einem unsortierten Moment, sind sie defensiv anfällig. Auch im Verteidigen der Flügel haben sie gelegentlich Schwierigkeiten, weil das Verschieben zu lange dauert. Hier muss das Team bis zur Europameisterschaft nachbessern und Abläufe optimieren.

Grundsätzlich ist England aber auch gegen den Ball sehr aktiv. Sobald sie den Ball verlieren, startet das Gegenpressing. In längeren Phasen ohne Ballbesitz lassen sie sich auch mal in ein tieferes Mittelfeldpressing fallen. Aber selbst gegen dominante Spanierinnen zeigte das Team von Wiegman beim Arnold Clark Cup in vielen Phasen ein gut organisiertes und aggressives Pressing – und dass sie ihrerseits unter Druck den Ball halten können.

Taktisch und fußballerisch dürfte England bei diesem Turnier zu den spannendsten Teams zählen. Sie sind individuell sehr stark besetzt und verfügen über viele Talente. Durch den Wechsel auf Wiegman haben sie zudem eine klarer erkennbare Struktur auf dem Platz, die ihnen in schwierigen Spielphasen oft weiterhilft.

Die Form

In einer vermeintlich einfachen Gruppe dominieren die Engländerinnen derzeit die WM-Qualifikation. Interessant ist, dass sie dort bereits auf die EM-Gegnerinnen Österreich (1:0) und Nordirland (4:0, 5:0) getroffen sind. Dass sie bisher kein einziges Gegentor kassiert haben, spricht für die Weiterentwicklung unter Wiegman.

Auch beim Arnold Clark Cup präsentierten sie sich auf Augenhöhe mit der Weltspitze. Unentschieden gegen Kanada (1:1) und Spanien (0:0) sowie das deutliche 3:1 gegen Deutschland unterstreichen, dass England bereit für dieses Turnier ist.

Nach dem jüngsten Testspiel-Erfolg gegen Belgien (3:0) haben die Three Lionesses jetzt noch eine Herausforderung vor dem EM-Start – und die hat es in sich. Gegen die Niederlande wird sich zeigen, wie viel die bisherige Form wirklich wert ist.

Drei Spielerinnen im Fokus

Es ist wirklich nicht leicht, sich in einem qualitativ derart hochwertig besetzten Kader drei Spielerinnen herauszugreifen. Aber here we go:

  • Lauren Hemp (21, Manchester City): Eine der talentiertesten Spielerinnen der Welt. In der Offensive auf nahezu allen Positionen einsetzbar. Bewegungs- und Handlungsschnell, athletisch, technisch versiert, kann selbst abschließen und vorbereiten. Mit 21 schon eine Schlüsselspielerin für England – sechs Tore und acht Vorlagen in acht WM-Quali-Spielen.
  • Lucy Bronze (30, bald FC Barcelona): Die vielleicht beste Außenverteidigerin der Welt. Modern, schnell, technisch überragend, gefährlich in der Offensive, trotzdem stark in der Defensive – es gibt quasi nichts, was sie nicht kann. Ich würde nicht mal darauf wetten, dass sie schlecht im Tor wäre.
  • Georgia Stanway (23, bald FC Bayern): Vielleicht objektiv nicht unbedingt eine Top-3-Spielerin im Kader, aber eine, die wir in der Bundesliga zukünftig noch häufiger sehen werden. Sie wechselt schließlich zu den Bayern. Sie ist im Prinzip die perfekte Wiegman-Spielerin, weil sie auf nahezu allen Offensivpositionen ihre Stärken einbringen kann. Dribbling, Durchschlagskraft, Abschlüsse, Power – das ist von ihr zu erwarten.

EM-Prognose in einem Satz

England wird bei diesem Turnier eine große Rolle spielen, attraktiven Fußball bieten und mindestens das Halbfinale erreichen.

Nordirland: Chancenlos in einer Hammergruppe?

Machen wir uns nichts vor: Nordirland wird in dieser Gruppe aller Voraussicht nach wenig zu melden haben. In der WM-Qualifikation kassierten die Nordirinnen zwei deutliche Niederlagen gegen England (0:4, 0:5) und eine mehr oder weniger deutliche in Österreich (1:3).

Mutmacher ist das starke 2:2, das sie daheim im Oktober gegen Österreich erspielen konnten – und dass sie trotz der genannten Niederlagen mindestens in Phasen gezeigt haben, dass sie diszipliniert verteidigen können.

Trainer und Taktik: Kenny Shiels

Kenny Shiels ist Trainer bei den Nordirinnen – und leider in der Vergangenheit durch klischeebehaftete Aussagen aufgefallen. “Ich bin sicher, du wirst das schon mal mitbekommen haben, dass es dieses Muster gibt”, sagte er nach der 0:5-Niederlage gegen England im April auf einer Pressekonferenz: “Wenn ein Team ein Gegentor kassiert, kassiert es ein zweites in einer sehr, sehr kurzen Zeitspanne. Das zieht sich durch den gesamten Fußball der Frauen, weil Frauen emotionaler sind als Männer.”

Er sprach diese Sätze sehr überlegt aus und nicht aus dem Affekt. Nachdem der Druck größer wurde, entschuldigte sich der Trainer – mehr oder weniger. Da das im Jahr 2022 offenbar immer noch nötig ist: Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für diese sexistische These. Sie ist herablassend, falsch und sie verärgert mich zutiefst. Lest darüber hinaus bitte diesen Kommentar von der herausragenden Autorin Suzy Wrack im Guardian.

Es fällt mir sehr schwer, den sportlichen Teil davon zu trennen, aber die Spielerinnen können nichts für diese Aussagen. In den drei Spielen erwarte ich ein Team, das recht tief verteidigen und auf schnell ausgespielte offensive Umschaltsituationen setzen wird.

Um wirklich konkurrenzfähig zu sein, fehlte es den Nordirinnen aber an Konstanz – konkreter an Entlastungsphasen. Sie sind qualitativ vor allem mit dem Ball nicht gut genug, um auf dem bei der EM notwendigen Niveau mitzuhalten. Und auch wenn sie gegen den Ball einen guten Tag erwischen, ist es deshalb oft das Warten auf den einen Fehler.

Für Nordirland ist es ein großer Erfolg erstmals bei einer EM-Endrunde dabei zu sein. Und das werden sie im Idealfall auch alle spüren lassen, die ihre Spiele schauen. Vor allem das Duell mit Österreich könnte sehr interessant werden. In der WM-Qualifikation haben sie bereits gezeigt, dass sie für eine kleine Überraschung gut sind. Dafür braucht es eine hochkonzentrierte Defensivleistung und etwas Glück im Spiel nach vorn. Aber wer weiß, wozu diese EM fähig ist?

Die Form

Nordirland befindet sich irgendwo zwischen den ganz kleinen Nationen und dem Niveau der besten Nationen. An einem guten Tag sind sie zu einem Unentschieden gegen durchaus prominent besetzte Österreicherinnen oder die Schweiz (ebenfalls 2:2) fähig. An schlechteren Tagen geraten sie unter die Räder.

Am 23.06. spielen die Nordirinnen ihr letztes Testspiel vor dem Turnier. Die Partie gegen Belgien wird eine ungefähre Richtung vorgeben. In der WM-Qualifikation haben sie Luxemburg (4:0), Lettland (4:0) und Nordmazedonien (11:0, 9:0) jeweils deutlich besiegt.

Drei Spielerinnen im Fokus

Der endgültige Kader ist noch nicht offiziell. Ich versuche, das möglichst gut und sauber zu recherchieren, aber aus Transparenzgründen ist es mir wichtig, an dieser Stelle zu erwähnen, dass es immer möglich ist, dass eine Spielerin aus diversen Gründen doch nicht dabei ist, die ich hier nenne. Gerade bei Nationen wie Nordirland, wo es nicht so leicht ist, an Informationen zu kommen, kann ich keine hundertprozentige Garantie geben.

  • Rachel Furness (33, FC Liverpool): Eine erfahrene Spielerin, die meist auf dem linken Flügel oder aus dem linken Halbraum heraus agiert. In der WM-Qualifikation ist sie mit elf Torbeteiligungen aus acht Partien die beste Scorerin des Teams. Kommt sie in den offensiven Umschaltsituationen mit Platz in zentrale Räume, kann es auch für die Top-Teams gefährlich werden.
  • Rebecca McKenna (21, FC Lewes): Jetzt wird es etwas nerdig – und auch etwas spekulativ. McKenna spielt in der zweiten englischen Liga für ein Team, das nur auf Platz acht gelandet ist. Hinzu kommt, dass ich sie viel zu selten gesehen habe, um sie seriös beurteilen zu können. Aber warum nicht ausnahmsweise mal ins Dunkle tippen? In den gut fünf Partien, die ich von ihr gesehen habe, gefiel sie mir gut. Sie war mutig mit dem Ball und überzeugt mit einer guten Athletik. Ihre Zweikampfführung gefiel mir ebenfalls gut. Vielleicht ist die EM ja die Bühne für dieses unbekannte Talent und sie rutscht bald eine Liga höher?
  • Julie Nelson (37, Crusaders NA Strikers WFC): Sie ist die Legende des Teams. Zugegeben: Sportlich ist sie mittlerweile für den einen oder anderen Fehler gut, aber ihre Geschichte ist unglaublich. 120 Länderspiele hat sie bereits absolviert, womit sie die erste Nordirin war, die die dreistellige Schallmauer durchbrach. Bei der WM-Qualifikation hat sie nahezu jedes Spiel über die volle Distanz absolviert. Für sie muss es ein Riesenerlebnis sein, die erste nordirische Teilnahme bei einer EM noch als aktive Spielerin wahrzunehmen.

EM-Prognose in einem Satz

Nordirland wird den Österreichern viel Gegenwehr liefern, aber dennoch mit drei Niederlagen nach Hause fahren.

Norwegen: Mitfavoritinnen oder Geh-Heim-Favoritinnen?

Leute, die Gruppe A hat bei der EM der Frauen alles. Wenn Ihr da nicht einschaltet, seid Ihr wirklich selbst Schuld. Es gibt sogar ein Team, über das man stundenlang diskutieren kann und am Ende wissen wir trotzdem nicht, ob sie nun Mitfavoritinnen oder Geh-Heim-Favoritinnen sind.

Norwegen ist mir persönlich ein kleines Rätsel. Da schaue ich mir den Kader an, sehe absolute Superstars und denke mir, dass die das schon rocken werden. Und dann sehe ich die Spiele und weiß wirklich nicht, wo sie derzeit stehen.

Einerseits ist da diese größtenteils souveräne WM-Qualifikation, in der sie Armenien, Kosovo, Belgien, Polen und Albanien regelrecht an die Wand spielen. Dann war da aber auch der Algarve Cup im Februar mit Niederlagen gegen Portugal (0:2) und Italien (1:2). Wohin also mit Norwegen?

Trainer und Taktik: Martin Sjögren

Norwegen hat eine sehr aggressive Spielweise. Gegenpressing ist hier einer der stärksten Spielmacher. Mit dem Ball spielen sie durchaus riskant, aber mit dem Ziel und dem Wissen, in den Umschaltsituationen sehr gedankenschnelle Spielerinnen in den eigenen Reihen zu haben. Ingrid Engen (FC Barcelona) ist eine der Anführerinnen, die mit ihrer dynamischen und vielseitigen Spielweise den Takt im Pressing und in den Umschaltsituationen oft vorgibt.

Aber auch bei den anderen Spielerinnen zeigt sich diese Gedankenschnelligkeit. Nach Ballverlusten gelingt es Norwegen in den überwiegenden Fällen, den ballnahen Raum sofort zuzustellen. Oft bleiben Gegnerinnen nur unkontrollierte lange Bälle als Mittel.

Es wird in Gruppe A spannend zu sehen, wie die Engländerinnen mit diesem Druck zurechtkommen. Gewinnen die Norwegerinnen den Ball nicht innerhalb von wenigen Sekunden zurück, bieten sich aber vor allem in den ballfernen Zonen Räume, in denen sie verwundbar sind – wenn auch nur für kurze Zeit.

Hansen und Hegerberg sind das Top-Duo

Denn oft dauert es nicht lange, bis das Team wieder in das gut organisierte 4-4-2 kommt. In der Offensive agiert die Auswahl von Martin Sjögren mit einem Flügelfokus. Die Außenverteidigerinnen schieben sehr hoch und erlauben es somit Caroline Graham Hansen (FC Barcelona), in zentraleren Positionen aufzutauchen.

Hansen wird eine Schlüsselspielerin in der Offensive sein. Die andere ist Ada Hegerberg, die 2017 nach dem Vorrundenaus ihren Rücktritt aus dem Nationalteam bekanntgegeben hatte. Sie war frustriert, weil sie die Wertschätzung für den Fußball der Frauen vermisste und mit der Entwicklung des Sports in Norwegen unzufrieden war.

Ungleiche Bedingungen für Jungs und Mädchen, organisatorische Probleme, strukturelle Nachteile – es gab unzählige Gründe, die sie zu dieser Entscheidung bewegten. Jetzt ist sie aber zurück. “Ich hatte die Möglichkeit, ehrliche Diskussionen mit dem Verband zu führen”, wurde sie im März vom Guardian zitiert. Der norwegische Fußballverband hat die Prämien angeglichen. Bei der EM können sie nun wieder auf ihren Superstar zählen.

Engen und Reiten komplettieren das Weltklasse-Quartett

Als Champions-League-Siegerin kommt sie mit frischem Selbstvertrauen. In Top-Form sind sie und Hansen kaum zu stoppen. Engen und Guro Reiten (FC Chelsea) komplettieren um sie herum ein Weltklasse-Quartett, das es allen Gegnerinnen bei dieser Euro schwer machen wird. Allerdings liegt in dieser doch sehr namenbasierten Analyse auch schon das große “Aber”.

Norwegen ist sehr auf Individualleistungen fokussiert. Sie setzen auf individuelle Klasse, Durchschlagskraft und Power – davon haben sie vor allem im Offensivbereich jeweils viel. Bei dieser EM wird es aber einige Teams geben, die dem mit taktischer Cleverness begegnen.

Es ist vorstellbar, dass Norwegen an seine Grenzen kommt, wenn die ersten Teams merken, dass es Wege durch das hohe Pressing gibt. Zumal die Namen im Defensivbereich nicht mehr ganz so groß sind und Norwegen in der Vergangenheit für das eine oder andere Gegentor gut war.

Ein Hoffnungsschimmer liegt darin, dass Maren Mjelde (FC Chelsea) nach langer Pause zurückgekehrt ist. Die Rechtsverteidigerin wäre sowohl für die defensive Stabilität als auch für den Ballvortrag sehr wichtig. Ob Hansen und Hegerberg immer in der Lage sind, das eine Tor mehr zu machen, könnte angesichts der Defensivprobleme die große Frage für Norwegen sein.

Die Form

Abgesehen von einem zähen 0:0 in Polen marschieren die Norwegerinnen durch die WM-Quali. Beim angesprochenen Algarve Cup zeigten sie allerdings, dass sie anfällig für Fehler sind. Die zwei Testspiele gegen Neuseeland (25.6.) und Dänemark (29.6.) werden sie dazu nutzen müssen, als Team stärker zusammen zu wachsen.

Die Lücken zwischen den Mannschaftsteilen sind auf hohem Niveau in einigen Situationen zu groß. Individuell gesehen sollten sich aber einige warm anziehen. Da kommt geballte Erfahrung aus der Premier League sowie von den beiden Top-Klubs Olympique Lyon und Barcelona.

Drei Spielerinnen im Fokus

Hansen, Engen, Hegerberg, Reiten – vier Top-Spielerinnen haben wir jetzt bereits auf dem Zettel. Also gehe ich ganz bewusst auf drei weitere ein.

  • Julie Blakstad (20, Manchester City): Eine sehr junge Außenspielerin, die dementsprechend nicht ohne Fehler ist. Trotzdem ist sie für ihr Alter schon sehr weit. Achtmal kam sie für City in der englischen Liga zum Einsatz. Im norwegischen Kader ist sie als Verteidigerin eingeplant. Sie ist flexibel einsetzbar, technisch stark und macht wichtige Offensivläufe für die einrückende Außenspielerin vor ihr. Abseits der Weltklasse-Spielerinnen lohnt ein Blick auf Blakstad, wenn sie eingesetzt wird.
  • Frida Maanum (22, FC Arsenal): Neben Engen geht sie oft ein wenig unter, aber auch sie trägt dazu bei, dass Norwegen eine verdammt gute Schaltzentrale hat. Sie trifft gute Entscheidungen unter Druck, macht gute Offensivläufe und gewinnt viele Zweikämpfe. Ein echtes Powerhouse und wenn ihr gerade mal nicht auf Engen schaut, dann bitte auf sie.
  • Elisabeth Terland (21, SK Brann): Ihr prognostiziere ich jetzt mal ganz frech, dass sie bald in einer anderen Liga spielen wird. Beim Scouting des neuen Bayern-Trainers Alexander Straus (kommt vom SK Brann) ist sie mir besonders aufgefallen. Eine vielseitige Offensivspielerin, die nicht nur einen guten Abschluss hat, sondern auch noch sehr kluge Laufwege wählt. Für Brann traf sie in 14 Ligaspielen zehnmal, für Norwegen in 377 Minuten fünfmal. Wahrscheinlich wird sie von der Bank kommen, aber wenn sie kommt, zieht Euch warm an!

EM-Prognose in einem Satz

Norwegen wird bei allem berechtigten Lob eine Negativüberraschung und scheidet spätestens im Viertelfinale, vielleicht sogar schon in der Gruppenphase aus.

Österreich: Der Gegenentwurf zu Norwegen?

Die Rollenverteilung in Gruppe A ist recht klar. Für Österreich steht das “A” für “Außenseiterinnen” – wenn auch nicht ganz so klar wie bei Nordirland. Die Alpenrepublik ist dennoch heiß auf dieses Turnier. “Gerade in diesen Zeiten hoffe ich, dass wir ganz viele Herzen in Österreich und vielleicht darüber hinaus erobern können”, sagte Viktoria Schnaderbeck erst kürzlich auf einer Pressekonferenz.

Im EM-Kader nimmt sie gemeinsam mit Bayern-Legende Carina Wenninger in der Defensive eine Führungsrolle ein. “Da werden wir unser Bestes tun, dass wir uns von unserer besten Seite zeigen”, erklärte die 31-Jährige: “Aber eben auch diese Grundwerte repräsentieren, die nicht nur uns, sondern auch diesen Sport ausmachen. Dinge wie Fairplay, Toleranz, Mut, gerade für Frauen sehr wichtig, Teamgeist, Leidenschaft.”

Fakt ist mal eins: Auch wenn England und Norwegen die klangvolleren Namen haben, so muss sich Österreich keinesfalls verstecken. Auch in ihrem Kader gibt es viel Qualität. Neben den bereits genannten Verteidigerinnen sind vor allem Torhüterin Manuela Zinsberger (FC Arsenal), Mittelfeldspielerin Sarah Zadrazil (FC Bayern), die beiden Frankfurterinnen Verena Hanshaw (Außenverteidigerin) und Barbara Dunst (Mittelfeld) sowie Stürmerin Nicole Billa (TSG Hoffenheim) zu nennen.

Trainerin und Taktik: Irene Fuhrmann

Da ist individuell gesehen wenig Weltklasse dabei, aber womöglich kann sich Österreich als Gegenentwurf zu Norwegen präsentieren: Taktisch geschlossen und mehr über gruppentaktische als über individuelle Aktionen. 2020 wurde Irene Fuhrmann die erste Teamchefin überhaupt bei den ÖFB-Frauen und sie ist durchaus erfolgreich. In der WM-Qualifikation gab es abgesehen von einem enttäuschenden 2:2 gegen Nordirland und der sehr knappen 0:1-Niederlage in England bisher nur Siege.

Fuhrmann lief selbst 22-mal für das Nationalteam auf. Die gebürtige Wienerin fordert von ihren Spielerinnen einen sehr aktiven Stil. Mit dem Ball setzt sie auf einen ruhigen Spielaufbau, gegen den Ball und in offensiven Umschaltmomenten auf Tempo und Aggressivität. Wobei differenziert werden muss. Österreich kann beides: Anlaufen im höheren Angriffspressing sowie eine abwartende Haltung im Mittelfeldpressing.

Das ändert aber nichts daran, dass die Spielerinnen meist mit hoher Intensität anlaufen. In einer tieferen Haltung verschiebt sich der Moment des Zupackens einfach nur um wenige Meter nach hinten. Diese Flexibilität und die Kompaktheit, mit der Österreich trotz hoher Aggressivität agiert, machen sie unangenehm zu bespielen.

Österreich mit Licht und Schatten

Bei der 1:2-Niederlage im jüngsten Test gegen Dänemark zeigten sich sowohl die Stärken als auch die Schwächen ihres Teams recht eindeutig. Fuhrmann setzte gegen die spielstarken Skandinavierinnen in vielen Phasen auf ein 5-3-2 gegen den Ball, um vor allem das Zentrum kompakt zu halten. Mit dem Ball schob Marina Georgieva immer wieder ins Mittelfeld vor, wodurch eine übliche Viererkettenformation entstand. Tatsächlich ergaben sich für Österreich mit der kompakteren Staffelung mehrere gute Ballgewinne.

Gegen spielstarke Teams wie England und Norwegen ist zu erwarten, dass die Österreicherinnen diese Taktik ebenfalls nutzen werden. Mit sechs Spielerinnen sichern sie das defensive Zentrum ab, zwei laufen vorne an. Im Idealfall zwingt das den gegnerischen Spielaufbau auf die Außenbahnen.

Statt dann die enge Staffelung im Zentrum aufzugeben, schiebt oft die ballnahe Flügelverteidigerin aggressiv heraus und die restlichen vier Verteidigerinnen pendeln nach, um den Rücken der Außenspielerin abzusichern. Österreich hat diese Abläufe gut automatisiert, weshalb es vor allem Tempo und ein präzises Passspiel braucht, um sie auszuspielen.

Auch das 1:0 gegen Dänemark fiel nach einer guten Pressingsituation. Die Torhüterin der Däninnen war dazu gezwungen, einen langen Ball auf den rechten Flügel zu spielen, wo der Ball dann erobert und mit wenigen Kontakten und einer schönen Kombination im Tor untergebracht wurde.

Österreich muss eigene Hausaufgaben erledigen

So gefährlich Österreich für die Favoritinnen aus Norwegen und England auch ist, so sehr müssen sie bis zur Europameisterschaft aber auch an den eigenen Hausaufgaben arbeiten. In beiden Umschaltmomenten wirkt das mitunter noch nicht ganz ausgereift. Erobern sie den Ball, suchen sie zwar schnell die Tiefe, finden dort aber nicht immer ausreichend Optionen.

Gegen Dänemark gab es nach vielen guten Ballgewinnen keine Anschlussaktionen, weil die Vorwärtsbewegung zu träge war. Das gleiche Problem hat das Team, wenn es längere Zeit am eigenen Strafraum verteidigt.

Es dauert in manchen Situationen zu lange, bis sie wieder ein paar Meter herausrücken und das entfacht Druck in gefährlichen Zonen, der wiederum zu Fehlern führt. Der 1:1-Ausgleich der Däninnen fiel auch deshalb, weil Österreich nach einem Standard zu langsam herausgerückt ist.

Mit dem Team von Irine Fuhrmann ist in jedem Fall zu rechnen. Dass sie Außenseiterinnen sind, könnte ihrer Spielweise entgegenkommen – und insbesondere gegen Norwegen ein kleiner Vorteil sein. Vielleicht sorgt Österreich für eine große Überraschung.

Die Form

Wie aus der Analyse bereits hervorging, ist Österreich auf einem sehr guten Weg. In der WM-Qualifikation belegen sie hinter den Engländerinnen den zweiten Platz und werden sich so wahrscheinlich für die Playoffs qualifizieren. Die Niederlage gegen Dänemark war verdient, zeigte aber auch in vielen Phasen, wo Potenziale für das Turnier liegen.

Am Mittwoch gegen Montenegro (22.6.) und Sonntag gegen Belgien (26.6.) wollen sich die Österreicherinnen den letzten Schliff holen. Gerade das Duell mit Belgien ist vor dem Hintergrund interessant, dass sie zuvor gegen England (0:3) und Nordirland (23.6.) gespielt haben werden. Ein erster Quervergleich zwischen diesen drei Nationen der Gruppe A.

Drei Spielerinnen im Fokus

Der Kader ist noch nicht offiziell, aber diese drei Spielerinnen sollten wohl dabei sein.

  • Sarah Zadrazil (29, FC Bayern München): Die beste Spielerin im Kader der Österreicherinnen, übernimmt im Mittelfeld viel Verantwortung. Vor allem ihre Ballgewinne und die vertikalen Läufe sind wichtig für das Offensivspiel. Trägt sie ihre Nation ins Viertelfinale?
  • Barbara Dunst (24, Eintracht Frankfurt): Läuft sowohl bei Frankfurt als auch beim Nationalteam unter dem Radar. Ist aber eine sehr vielseitige Mittelfeldspielerin mit Stärken im Spiel nach vorn und in der Balleroberung. Gemeinsam mit Zadrazil ein Schlüssel für eine erfolgreiche EM.
  • Nicole Billa (26, TSG Hoffenheim): Torschützenkönigin in der Bundesliga 2020/2021, auch in der vergangenen Saison wieder mit zwölf Toren und fünf Vorlagen. In der WM-Qualifikation zehn Treffer und vier Assists in sieben Einsätzen. Muss sich vor den anderen Top-Torjägerinnen in der Gruppe nicht verstecken

EM-Prognose in einem Satz

Ich liebe kleine Überraschungen und glaube deshalb, dass Österreich den Norwegerinnen und womöglich auch England das Leben schwer machen und ins Viertelfinale einziehen wird.

Kleine Bitte am Schluss: Ich wurde von der Journalistin Mara Pfeiffer vor einigen Tagen zu Recht darauf hingewiesen, dass der Hashtag #WEURO2022 in den sozialen Medien Quatsch ist. Es ist eine Europameisterschaft. Es gibt keinen Grund, das “W” zu benutzen. Ich nutze nur noch die Hashtags #EM2022 und #Euro2022 und freue mich über alle, die das ebenso tun.

Und keine Sorge: Die Einträge während des Turniers werden knackiger und kürzer. Ich finde nur, dass die Teams vorab eine möglichst ausführliche Auseinandersetzung verdient haben.

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Bild: © Valerio Rosati | Dreamstime.com / bearbeitet mit Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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