EM-Notizen, Tag 7: England mit Acht-Demonstration – White, immer White?

Veröffentlicht von Justin Kraft am

England besiegt ein vermeintlich mitfavorisiertes Norwegen mit 8:0. Und ich stelle mir die Frage: Was bedeutet das für den Fußball der Frauen?

Was ist denn hier los? Diese Frage stellten sich vermutlich alle am gestrigen Abend. Angekündigt wurde das Spiel zu Recht als eines zwischen Top- und Mitfavoritinnen. Zurück bleiben Top-Top-Favoritinnen und ein norwegischer Scherbenhaufen.

Ich will den taktischen Teil meiner EM-Notiz heute sehr knapp halten und auf ein aus meiner Sicht wichtigeres Thema eingehen: Schadet dieser Abend dem Fußball der Frauen mehr als er ihm hilft?

Doch erstmal zum Sport: Auf Twitter schrieb mir der User “Kuhn913” gestern, dass er selten erlebt habe, dass eine Stärke eines Teams so konsequent die Schwächen des anderen bespiele. Es sei, als habe Norwegen ständig Papier und England komme mit seiner Schere. Ich finde das sehr treffend.

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England: Mit der Schere gegen norwegisches Papier

Es tat weh, das zu sehen – auch und gerade aus einer vermeintlich neutralen Perspektive. Doch welche Stärke und welche Schwäche sind das konkret? Schon in meiner Vorschau auf Gruppe A schrieb ich über Norwegen: “Gewinnen die Norwegerinnen den Ball nicht innerhalb von wenigen Sekunden zurück, bieten sich aber vor allem in den ballfernen Zonen Räume, in denen sie verwundbar sind”.

Norwegen spielt ein aggressives, hohes Pressing und will das Spiel mit dem Ball schnell machen. Ohne jetzt zu sehr in die taktischen Details gehen zu wollen: Das ging gegen England komplett in die Hose. Denn Sarina Wiegmans Team kann ganz passabel kicken.

Im Vergleich zum 1:0 gegen Österreich besetzten die Engländerinnen die Zwischenräume nun wieder besser – vermutlich auch, weil Norwegen da teilweise riesige Löcher hinterließ. Selbst gegen Nordirland war die Defensivschwäche der vermeintlichen Favoritinnen ersichtlich. Wenn sie vorn die Bälle an die Mitspielerinnen bringen und zum Abschluss kommen, ist das schön anzusehen. Gegen England führte das überhastete Offensivspiel zu Lücken, die sie nicht mehr schließen konnten.

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Norwegen: Out of position, England zu stark

Zumal Norwegens Defensive aus zwei gelernten zentralen Mittelfeldspielerinnen und einer Außenstürmerin besteht. Und das sieht man im direkten Zweikampfverhalten dann auch. Mit Maren Mjelde spielte zudem eine Spielerin innen, die sonst gern mal rechts spielt. Auch im Angriff hatte ich nicht den Eindruck, dass die Rolle als Schattenstürmerin optimal für Caroline Graham Hansen ist.

Martin Sjögren muss sich die Frage gefallen lassen, ob er bei der Zusammenstellung seines Teams nicht zu viele Spielerinnen aus ihrer Komfortzone gerissen hat. Es war sicher nicht einfach für ihn, weil die individuelle Klasse im Defensivbereich stark abnimmt, aber dass Norwegen gegen England derart auseinanderbrach, ist indiskutabel – und zu großen Teilen seine Verantwortung.

England konnte immer wieder mit den unfassbar dynamischen Offensivspielerinnen die Räume zwischen den Linien attackieren und von dort hinter die Kette kommen. Norwegen bekam überhaupt keinen Zugriff und wurde mit jedem Gegentor unsicherer. Das Papier wurde von Englands Schere nicht nur einmal, sondern solange zerschnitten, bis nur noch Konfettischnipsel übrig waren.

England und der Kantersieg: Ein Problem für den Fußball der Frauen?

Und das bringt mich nun zum eigentlichen Thema: Wie gut ist das für den Fußball der Frauen? Vermutlich waren die Spiele von Frankreich und England ein wenig Wasser auf die Mühlen einiger Kritiker:innen. Überbewerten würde ich das dennoch nicht.

Tore sind Unterhaltung und Tore führen zu Gesprächsstoff. Ich hatte mir trotzdem von der Europameisterschaft erhofft, dass sich am Ende vielleicht zwei, drei Teams herauskristallisieren, die ein bisschen besser sind als der Rest, wir dahinter aber ein Feld von weiteren sechs bis acht Nationen erleben, die sich alle gegenseitig das Leben schwer machen. Vielleicht kommt es auch noch so. Mit einem 8:0 hatte ich aber nicht gerechnet.

Tatsächlich bleibe ich nun mit einer Mischung aus Euphorie wegen der englischen Leistung und Enttäuschung über die Chancenlosigkeit der Norwegerinnen zurück. Mit Dänemark und Norwegen sind bereits zwei recht starke Teams deutlich baden gegangen. Italien möchte ich keinen allzu großen Vorwurf machen, aber auch von ihnen hatte ich mehr erwartet. Wie es mit den Niederländerinnen und Schweden weitergeht, ist offen. Beide haben mich im direkten Duell nicht gänzlich überzeugt.

EM 2022 in England: Außenseiterinnen präsentieren sich gut

Auf der anderen Seite sind da Teams wie Portugal, Finnland oder Nordirland, die mit bisher starken Leistungen für kleine Überraschungen gesorgt haben. Dass die Außenseiterinnen befreit aufspielen und die ganz großen Niederlagen dahingehend ausblieben, ist ein positives Zeichen. Da sollte man sich von Ergebnissen nicht täuschen lassen.

Die unterschiedlichen Voraussetzungen der 16 Teilnehmerinnen sind dennoch deutlich zu erkennen. Ich bin weit davon entfernt, dieses Thema nach nicht mal zwei Spieltagen in der Gruppenphase größer zu machen als es ist, aber der eine oder andere leicht besorgte Gedanke kam mir seit gestern.

So gut die Entwicklung in der Spitze des Fußballs der Frauen in den letzten zwei bis drei Jahren war und weiterhin ist, so sehr muss aus meiner Sicht aufgepasst werden, dass die Strukturen des Fußballs der Männer nicht komplett nachgebaut werden. Denn wie im Rasenfunk richtig festgestellt wird: Deutschland (m) hat in seiner Geschichte erst zwei WM-Qualifikationsspiele verloren. England (m) schlug Panama (m) bei der WM 2018 mit 6:1. Die Leistungsschere ist nichts, was der Fußball der Frauen exklusiv hat.

Deutschland schlug Brasilien 2014 mit 7:1 – ein wohl passenderer Vergleich zu Norwegen (f), weil das auf die Tagesform und verschiedene Umstände zurückzuführen ist und nicht zwingend auf eine grundlegende Leistungsschere. Für mich stellt sich dennoch die Frage, ob der Fußball der Frauen die Chance hat und es schafft, die bereits vorhandene Schere nicht so weit auseinander gehen zu lassen wie im Fußball der Männer.

Wie kann die Entwicklung gleichmäßig verteilt werden?

Eine entscheidende Frage für die Zukunft wird deshalb sein, wie es dem Fußball der Frauen gelingt, die jetzt stattfindende Entwicklung im Spitzenfußball auf die gesamte Breite zu verteilen.

Die EM bietet aktuell Indizien dafür, dass auch kleine Nationen auf dem Vormarsch sind. Das ist gut. Sie bietet aber auch das eine oder andere Indiz dafür, dass die Unterschiede bei den Voraussetzungen und in der allgemeinen Qualität an einigen Stellen noch zu groß sind. Es ist ja kein Zufall, dass England die Früchte der letzten Jahre erntet, oder Frankreich nach den Investitionen von Olympique Lyon und Paris Saint-Germain diese Qualität hat.

Bei aller berechtigten Kritik an Deutschland: Wolfsburg, Bayern und Frankfurt leisten sehr gute Arbeit, Freiburg ist ein Top-Ausbilder für Talente und auch Hoffenheim hat zuletzt viele gute Spielerinnen hervorgebracht. Da tut sich einiges.

Insofern ist dieses norwegische Debakel jetzt kein Grund für tiefgreifende Grundsatzdebatten über die Qualität des Fußballs der Frauen. Es ist immer noch ein Prozess, der hier stattfindet und den es anzuerkennen gilt.

England: Kann 8:0 Werbung für den Fußball sein?

Werbung für den Fußball der Frauen waren die Spiele von Frankreich und England ja irgendwie dann doch. Beide Teams haben gezeigt, wie schnell und technisch versiert der Spitzenfußball geworden ist. Das noch stärker in den Vordergrund zu heben und aufzuzeigen, was eigentlich alles möglich ist, ist auf der einen Seite sehr wichtig. Auf der anderen ist so ein Kantersieg gegen ein stark besetztes Norwegen dennoch etwas, was man nicht gerade auf der ersten Seite einer Bewerbungsmappe abdrucken würde, wie Isabel de Bruyn im Rasenfunk richtig festgestellt hat.

Aber was ist schon Werbung? Bei der EM der Männer im letzten Jahr gab es ebenfalls zahlreiche Spiele, die ich nicht als Werbung für den Fußball bezeichnen würde. In der Bundesliga (m) feiern Menschen Kantersiege und langweilige Bolzereien ab.

Solche Ergebnisse wird es immer wieder mal geben. Bei den Männern wie bei den Frauen. Letztendlich ist es eben doch einfach nur Fußball. Und Fußball ist auch deshalb ein beliebter Sport, weil er oft genug unvorhersehbar ist. In diesem Fall eben durch ein 8:0 gegen ein zuvor mitfavorisiertes Norwegen. Meine EM-Stimmung trübt das trotz einiger kritischer Gedanken nicht.

Zumal, und das ist dann vielleicht auch ein Punkt, der mir fast schon zu kurz kommt, es bei Norwegen nicht daran lag, dass sie die Qualität grundsätzlich nicht haben. Das gesamte Team muss die Frage nun sehr genau aufarbeiten, wie es dazu kommen konnte.

Ausblick auf den EM-Tag

Um 18 Uhr spielt Finnland gegen Dänemark und es wird sehr spannend zu sehen, wie beide Teams das Duell angehen. Finnland hat im ersten Spiel gezeigt, dass sie sehr unangenehm sein können – und die Däninnen müssen unbedingt gewinnen. Im Abendspiel treffen dann Deutschland und Spanien aufeinander. Wohl die vorentscheidende Partie im Kampf um den Gruppensieg. Hier habe ich aufgeschrieben, worauf es ankommen könnte.

Weitere Beobachtungen

  • Es fällt mir wirklich schwer, bei England eine Spielerin hervorzuheben. Die Dynamik von Georgia Stanway oder Lauren Hemp, aber auch die Präsenz von Ellen White, die 75 % ihrer Luftzweikämpfe gewann, zwei Tore erzielte und vor allem körperlich und athletisch ein tolles Spiel machte. Fran Kirby, die 95 % ihrer Pässe an Mitspielerinnen brachte. Oder Beth Mead, der kaum ein Fehler unterlief, die dreimal traf, vier Chancen herausspielte und immer eine Gefahr für das gegnerische Tor war. Eine beeindruckende Offensivleistung.
  • Englands Passspiel und die dynamische Positionierung in den Zwischenräumen waren gegen Norwegen der Schlüssel zum Sieg. Von insgesamt 539 Pässen kamen 88 % an. Selbst bei den langen Bällen kamen 68 % an. 6,9 Expected Goals sind zudem ein Wahnsinnswert.
  • Nicht untergehen sollte die Strafraumszene, die zum Elfmeter geführt hat. Aus meiner Laiensicht hatte Norwegen da sehr viel Pech. Bis dahin waren sie etwas besser im Spiel. Der Kontakt oben reicht meiner Meinung nach nicht für einen Elfmeter, unten wird White etwas getroffen, aber auch das war mir angesichts des späten Falls zu wenig. Da die Kontakte aber da waren, war es wohl keine eindeutige Fehlentscheidung, weshalb der VAR nicht eingriff. Ich hätte mir hier gewünscht, dass die Schiedsrichterin nicht pfeift. Ob es zu einem anderen Spielverlauf geführt hätte? Fraglich.
  • Da war tatsächlich noch ein Spiel. Kein Spektakel, aber ein sehr wichtiger 2:0-Sieg Österreichs, die sich nun die Chance auf das Viertelfinale gewahrt haben und im Gruppenendspiel gegen Norwegen um Platz zwei kämpfen. Die Leistung fand ich etwas zäh. Einerseits war Sarah Zadrazil deutlich weiträumiger unterwegs als gegen England. Das hatte Vorteile im Spielaufbau, aber ein paar Nachteile im Offensivspiel, wenn sie nicht in ihrem eigentlichen Mittelfeldraum positioniert war. Auf der anderen Seite war mir das offensiv nicht kreativ und dynamisch genug. Nordirland ist schwer zu knacken, aber Österreich bekam Nicole Billa kaum in aussichtsreiche Positionen. Und wenn doch, dann wurden die Bälle verstolpert. Die Favoritinnenrolle lag ihnen offenbar nicht.

Hör- und Leseempfehlungen

Hier geht es zur letzten EM-Notiz.

Bild: © Canva




Justin Kraft

Quereinsteiger im Bereich Sportjournalismus. Blogger, Podcaster, Autor. Taktik-, Team- und Spieler:innenanalysen sowie Spielberichte zählen zu meinen Kernkompetenzen. Mein Antrieb ist es, die komplexe Dimension des Spiels zu verstehen und meine Erkenntnisse möglichst verständlich weiterzugeben. Journalistisch. Analytisch. Fundiert.

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